Markierung für eine Gasleitung.
FAQ

Russisches Gas Wer leidet unter den gedrosselten Lieferungen?

Stand: 17.06.2022 20:32 Uhr

In den vergangenen Tagen hat Russland seine Gaslieferungen nach Europa reduziert. Welche Länder leiden darunter? Was passiert, wenn die Mengen weiter gedrosselt bleiben? Ist Deutschland für den Winter gerüstet?

Von Notker Blechner, tagesschau.de

Einige Beobachter sprechen schon vom "Gaskrieg". Russlands Präsident Wladimir Putin dreht zunehmend den europäischen Ländern den Gashahn ab. Nachdem Gazprom bereits im Mai die Lieferungen in fünf EU-Staaten eingestellt hatte, reduziert der russische Staatskonzern nun seine Exporte in fünf weitere Länder, darunter Deutschland. Wir erklären, was das für die Energieversorgung hierzulande und in anderen Teilen Europas bedeutet. Und was im Winter auf uns zukommen könnte.

Wie stark treffen die reduzierten russischen Gaslieferungen Europa?

Der russische Staatskonzern Gazprom hat die Lieferungen nach Deutschland, Italien, Österreich, in die Tschechische Republik und die Slowakei reduziert und angekündigt, dass das italienische Energieunternehmen Eni künftig nur noch die Hälfte der bestellten Menge erhalte. Auch das slowakische Gasunternehmen SPP berichtete über eine Kürzung der russischen Erdgasimporte um 50 Prozent.

Die Maßnahme trifft vor allem Italien hart. Das Land bezieht 40 Prozent seines Erdgases von Russland. Zwar arbeitet Rom an Alternativen und setzt verstärkt auf Importe aus Algerien, doch ganz so schnell lassen sich die wegbrechenden Mengen aus Russland nicht kompensieren.

Warum drosselt Russland die Gasexporte?

Als Grund nannte Russland Wartungsarbeiten an Nord Stream 1. Die in Kanada gewartete Siemens-Gasturbine dürfe aufgrund der westlichen Sanktionen gegen Moskau nicht ausgeliefert werden, hieß es. Fachleute und Politiker haben ihre Zweifel an der Begründung. Deutschland und Italien sehen die Reduzierung der Gaslieferungen als politisch motiviert an.

Welchen Ländern hat Putin bereits den Gashahn zugedreht?

Polen, Bulgarien, Finnland, Dänemark, die Niederlande und nun auch Frankreich erhalten kein russisches Gas mehr. Die meisten dieser Länder hatten sich geweigert, für ihre Zahlungen ein Rubel-Konto bei der russischen Gazprombank zu eröffnen und die Rechnungen in Rubel zu begleichen. Teils dürften auch politische Gründe eine Rolle gespielt haben.

Dennoch ist die Energieversorgung in den betroffenen Ländern weiter gewährleistet. Außer Frankreich "fallen für all diese Länder die russischen Gasmengen aber nicht so stark ins Gewicht, da sie keine großen Mengen ausmachen und teilweise bereits Alternativen ausgemacht haben, vor allem gilt dies für Polen", sagt Energie-Analyst Andreas Schröder von ICIS. Selbst Frankreich kann die wegfallenden russischen Gasmengen vorerst durch spanische Lieferungen ersetzen. Die Pipeline, über die Frankreich bisher russisches Gas erhielt, war ohnehin nur zu zehn Prozent ausgelastet. Paris setzt verstärkt auf LNG. Seit Jahresbeginn hat die Einfuhr von Flüssigerdgas um 66 Prozent zugenommen.

Was droht Deutschland, wenn die russischen Gasmengen weiter gedrosselt bleiben?

Dann könnte spätestens im Winter ein Engpass drohen. Wenn Gazprom über Wochen nur 40 Prozent der Gasmengen durch Nord Stream 1 liefere, bekomme Deutschland ein Problem, warnte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, in der "Rheinischen Post". "Das würde unsere Situation erheblich verschlechtern. Über den Sommer könnten wir das vielleicht aushalten", sagte er. Um den Winter zu überstehen, müssten wir jetzt aber zwingend die Speicher auffüllen.

Die Bundesregierung beteuert, dass die sichere Versorgung mit Gas momentan weiter gewährleistet ist. "Aktuell können die Mengen am Markt beschafft werden, wenn auch zu hohen Preisen", heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium. "Es wird aktuell noch eingespeichert."

Wie voll sollten die Gasspeicher sein?

Das im März beschlossene neue Energiespeichergesetz schreibt vor, dass die Speicher insgesamt in diesem Jahr zum 1. Oktober zu 80 Prozent und zum 1. November zu 90 Prozent befüllt sein müssen. Aktuell sind wir davon noch weit entfernt. Der Gesamtfüllstand wurde von der Bundesnetzagentur am Donnerstag mit knapp 56 Prozent angegeben. Allerdings lag er vor drei Monaten noch deutlich niedriger. Der Tiefststand betrug im März weniger als 25 Prozent.

Müssen wir im Winter frieren?

Wohl kaum. Wer und wann die Gasheizung abdrehen muss, regelt der dreistufige Gas-Notfallplan. Dieser sieht eine Priorisierung vor. Demnach werden Privathaushalte bevorzugt behandelt. Das heißt: Zuerst muss bei einer Gaskrise die Industrie Anlagen abschalten, erst als letztes wären die Privathaushalte an der Reihe.

Wie lassen sich in Deutschland die wegfallenden russischen Gasmengen kompensieren?

Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran, Ersatz für russisches Gas zu finden. So soll der Import von Flüssigerdgas (LNG) deutlich ausgebaut werden. Aktuell sind vier schwimmende LNG-Terminals vorgesehen. Die ersten beiden sollen in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel bis Jahresende in Betrieb gehen, die anderen beiden im Frühjahr 2023. Als Standorte für diese im Gespräch sind Stade und Hamburg sowie Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Zudem sind für die kommenden Jahre mindestens zwei stationäre LNG-Terminals geplant. Als Kandidaten werden Stade, Brunsbüttel sowie Wilhelmshaven genannt. Möglich sind auch Importe aus LNG-Terminals anderer EU-Staaten.

Weitere Gasmengen könnten diesen Winter eingespart werden, indem Gaskraftwerke durch in Reserve gehaltene Kohlekraftwerke vorübergehend ersetzt werden. Dies würde allerdings den CO2-Ausstoß erhöhen. Auch die Industrie und Privathaushalte könnten Energie einsparen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) beziffert das Einsparpotenzial bei privaten Haushalten auf 15 Prozent.

Die EU will bis Ende des Jahres die von Russland bezogenen Gaslieferungen um zwei Drittel zurückfahren. Unter anderem soll Flüssigerdgas aus den USA die Lücke schließen. Ein Großbrand in einer zentralen Exportanlage für LNG im texanischen Freeport verringert die US-Exportmenge nun aber vorübergehend um 20 Prozent.

Energie-Analyst Schröder von ICIS geht davon aus, dass ein vollständiger Ausstieg bis Jahresende aus russischen Gasimporten nur zu sehr hohen Kosten und mit Kollateralschäden für die Volkswirtschaft erreichbar sei. "Ein Ausstieg ist technisch möglich, wenn die Nachfrage rationiert wird."

Was passiert, wenn Putin im Sommer Deutschland den Gashahn ganz zudreht?

Das wäre das schlimmste Szenario für Deutschland. Ohne die Lieferungen aus der Nord-Stream-1-Pipeline können höchstwahrscheinlich die deutschen Gasspeicher bis zum Wintereinbruch nicht hinreichend gefüllt werden. Noch immer ist Deutschland zu 35 Prozent von russischen Gasimporten abhängig. Der Rest kommt vor allem aus den Niederlanden und Norwegen. Etwa fünf Prozent des Bedarfs werden aus einheimischer Förderung gedeckt. Es ist unmöglich, in so kurzer Zeit die russischen Gasimporte komplett zu ersetzen.

Welche EU-Länder würden unter einem Importstopp von russischem Erdgas am meisten leiden?

Vor allem Deutschland und die meisten Länder in Osteuropa. Laut Energie-Experte Georg Zachmann vom Bruegel-Institut hätte ein Lieferstopp von russischem Gas verheerende Folgen für Ungarn, die Slowakei und Österreich. Auch Deutschland sieht er nur teils gewappnet für ein Gas-Embargo. Analyst Schröder von ICIS glaubt aber, dass der Kreml sich gegenüber Ungarn und Serbien nachsichtig zeigen werde, da er mit diesen Ländern besondere Beziehungen pflegt. "Andere Länder werden mehr leiden. West- und Zentraleuropa ist für einen kompletten Lieferausfall durch Russland kaum gewappnet", glaubt er.

Sollte ein EU-Land in eine Notlage geraten, greift der so genannte Solidaritätsmechanismus. Dann müssen Mitgliedsstaaten solidarische Maßnahmen ergreifen, um die Versorgung von schutzbedürftigen Kunden in unmittelbar angrenzen Mitgliedsstaaten sicherzustellen. "Deutschland kommt durch acht unmittelbar angrenzende Mitgliedstaaten und durch das über die Schweiz mittelbar angebundene Italien eine besondere Verantwortung zu", sagt Energie-Experte Hans-Wilhelm Schiffer von der RWTH Aachen.

Wie stark könnte der Erdgaspreis noch nach oben klettern?

Das lässt sich natürlich schwer voraussagen. Der Erdgaspreis hängt von vielen Faktoren ab. Sollte aber Russland weiter die Gasmengen drosseln, rechnen Experten mit weiter steigenden Preisen. Es seien zwar schon einige Effekte eingepreist, aber es dürfte sicherlich weiter nach oben gehen, prophezeite Energie-Expertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaft auf tagesschau24. Ein kompletter Lieferausfall Russlands würde wohl dazu führen, dass die Preisspitzen vom Februar 2022 von über 200 Euro/MWh wieder erreicht werden, glaubt Energie-Analyst Andreas Schröder von ICIS.

R. Geißler, MDR, 18.06.2022 07:30 Uhr