Sonnenbeschienenes Schild der EZB vor der Zentrale in Frankfurt

EZB-Sitzung in Amsterdam Anleihekäufe beenden - und dann?

Stand: 09.06.2022 01:09 Uhr

Die EZB hat für Billionen Euro Anleihen von Staaten und Konzernen gekauft. Heute will sie bei ihrer Sitzung das Kaufprogramm beenden. Doch ob rasch eine kräftige Zinserhöhung folgt, ist in der Zentralbank umstritten.

Es ist ein merkwürdiger Ort, an dem die Europäische Zentralbank (EZB) diese Woche die Weichenstellung für ihre künftige Geldpolitik präsentieren will: Im Amsterdamer Hermitage Museum will EZB-Präsidentin Christine Lagarde die Beschlüsse verkünden. Das kleine Museum war bislang sozusagen die westliche Dependance zur großen Mutter, der Eremitage in Sankt Petersburg. Sie stellte regelmäßig russische Kunst aus. Doch nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine machte Amsterdam Schluss mit der Kooperation, packte die rund 500 Kunstwerke für eine Sonderausstellung ein und schickte sie nach Russland zurück. Jetzt stehen viele Räume des Museums leer. Ob dieser Ort ein gutes Vorzeichen für den Bruch mit der lockeren Geldpolitik ist, muss sich zeigen.

Fakt ist, dass die Währungshüter auf ihrer auswärtigen Sitzung in Amsterdam - der ersten nach zwei Jahren Corona-Pause - in neue Zeiten aufbrechen wollen. Die anstehende Zinswende dürfte an der Amstel noch nicht verkündet werden, aber man will den Boden dafür bereiten, dass die EZB im Juli die erste Zinsanhebung seit elf Jahren vollziehen kann. Dafür ist es notwendig, das Billionen-schwere Anleihekaufprogramm APP auslaufen zu lassen.

Klaus-Rainer Jackisch, HR, zur erwarteten Zinsentscheidung der EZB

Morgenmagazin

Beschluss zum Ende der Anleihekäufe zu erwarten

Seit Jahren hat die EZB immer wieder betont, das Ende dieser Käufe sei Grundvoraussetzung für eine Zinsanhebung. Der formelle Beschluss dafür scheint nun im EZB-Rat besiegelt zu sein und dürfte diese Woche verkündet werden.

Seit der Schulden- und Eurokrise hat die EZB Milliarden über Milliarden an Staatsanleihen und anderen festverzinslichen Papieren auf den Finanzmärkten aufgekauft. Dazu gehören öffentliche Anleihen, aber auch Papiere von Unternehmen. Damit wurden seit 2015 riesige Summen an Geld in das System gepumpt, um es liquide zu halten und das Zinsniveau zu drücken.

Zwar wurden die monatlichen Käufe bereits seit längerem deutlich reduziert auf zuletzt 20 Milliarden Euro. Doch insgesamt wurden auf diese Weise durch die EZB über die Jahre Anleihen im Wert von über 3,4 Billionen Euro aufgekauft - so jedenfalls der Stand Ende Mai. Hinzu kommen die rund 1,7 Billionen, die für das Corona-Notprogramm PEPP zusätzlich in den Büchern stehen.

Mehr als fünf Billionen Euro in Anleihekäufe investiert

Über 5,1 Billionen Euro hat die EZB also in Anleihen investiert. Mit dieser unvorstellbaren Summe an frisch gedrucktem Geld, das für diese Käufe aufgewendet wurde, ist es der EZB zumindest teilweise gelungen, die Euro-Krise zu entschärfen, den Zusammenbruch der Währungsunion zu vermeiden und die schlimmsten wirtschaftlichen Verwerfungen von Finanz-, Schulden- und Corona-Krise abzumildern.

Aber die EZB setzte sich damit auch immer wieder dem Vorwurf aus, verdeckte Staatsfinanzierung zu betreiben, die nach den Statuten eigentlich verboten ist. Denn sie musste sich immer wieder sagen lassen, dass sie mit dieser Politik vor allem günstige Konditionen zur Finanzierung der hoch verschuldeten südeuropäischen Staaten im Blick hat, anstatt ihrem eigentlichen Auftrag nachzugehen: Preisstabilität in der Eurozone zu wahren.

Hohe Inflation zwingt EZB zur Reaktion

Nun also sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, diese lockere Geldpolitik zu ändern. Auslöser ist die explodierende Inflation überall in der Eurozone. Sie liegt mit 8,1 Prozent auf Rekord-Niveau. In Deutschland ist die Inflationsrate mit 8,7 Prozent sogar noch höher, jedenfalls wenn man die Berechnungsgrundlage der europäischen Statistikbehörde Eurostat zugrunde legt. Die weicht seit Monaten immer stärker von der deutschen Berechnungsweise des Statistischen Bundesamtes ab, das die Inflationsrate im Mai auf 7,9 Prozent schätzt.

In einigen Eurostaaten spitzt sich die Situation dramatisch zu: in Estland liegt die Inflationsrate mittlerweile bei 20,1 Prozent, in Litauen bei 18,5 Prozent, in der Slowakai bei 11,8 Prozent, unterdurchschnittlich ist sie in Frankreich mit 5,8 Prozent. Hier hat die Regierung mit zahlreichen Maßnahmen im Zuge der Präsidentschaftswahlen versucht, die schlimmsten Auswüchse der Entwicklung zu bremsen. Im Durchschnitt ist die Inflation im Euroraum mehr als viermal so hoch, wie von der EZB angestrebt (zwei Prozent).

Heftiger Streit über Gestaltung der Zinswende

Doch selbst wenn die Währungshüter nun in Amsterdam den Weg für die Zinswende frei machen, heißt das nicht, dass die Zinsen ab Juli gleich kräftig steigen und die Inflation sofort deutlich zurückgeht. Tatsächlich wird derzeit heftig darüber gestritten und debattiert, wie sich die Zinsentwicklung gestalten wird. Je nach Lager stehen dabei auch die unterschiedlichen Zinssätze im Mittelpunkt.

Vor allem EZB-Chefvolkswirt Philip R. Lane und viele südeuropäische Länder plädieren für ein behutsames Vorgehen - auch aus Sorge, ein zu starker Zinsanstieg könne die Konjunktur endgültig abwürgen. Anderseits haben die sogenannten "Falken", also die Gruppe, die ein schärferes Vorgehen fordert, in den vergangenen Wochen deutlich an Zulauf gewonnen. Zu dieser Gruppe gehören neben der Bundesbank vor allem die Ratsmitglieder aus Österreich, den Niederlanden und den baltischen Staaten. Sie alle fordern ein deutliches Zeichen der EZB und bereits im Juli einen deutlichen Schritt beim Haupt-Leitzins nach oben.

Unterschiedliche Erwartungen der Ökonomen

Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland, kann sich vorstellen, dass die EZB mit einer "klaren, aggressiven Überraschung" punkten will und den Haupt-Leitzins bereits im Juli um 0,5 Prozentpunkte anhebt. Bis zum Jahresende sieht er den Satz bei 1,0 Prozent.

Viele seiner Kollegen sind da etwas vorsichtiger. Einige halten es sogar für unwahrscheinlich, dass der sich seit rund sechs Jahren bei Null Prozent befindliche Haupt-Leitzins im Juli überhaupt angerührt wird. Nach ihrer Ansicht richte die EZB ihren Blick vorerst auf den Einlagezins. Den müssen Banken bezahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Er liegt derzeit bei -0,5 Prozent und dürfte im Juli auf -0,25 Prozent reduziert werden. Mit einer Anhebung des Haupt-Leitzinses wird erst später gerechnet. Zinswende hieße bei diesem Szenario vorerst also nur Abschaffung der Negativzinsen, nicht aber eine Erhöhung des Haupt-Leitzinses.

Möglicherweise viele kleine Zinsschritte

Auch die Commerzbank geht davon aus, dass die EZB eher behutsam vorgeht. Nach ihrer Analyse wird die Notenbank auf den sieben Ratssitzungen ab Juli die Zinsen jeweils nur leicht, dafür aber stetig anheben. Damit wäre in einem Jahr, im Mai 2023, ein Zinsniveau beim Haupt-Leitzins von 1,25 Prozent erreicht.

Das ist aus Sicht von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer angesichts der hohen Inflation weiter viel zu wenig. Nach seinen Berechnungen müsste der Satz dann mindestens doppelt so hoch sein. Dennoch sei es wichtig, dass die Währungshüter überhaupt etwas täten. Denn der zentrale Punkt sei, die Inflationserwartungen der Bevölkerung zu dämpfen. Die liegen in Deutschland nach einer Studie der Bundesbank für die nächsten fünf Jahre mittlerweile bei 5,2 Prozent. "Die EZB muss ein Zeichen setzen, nicht weiter Vollgas zu geben", so Krämer. Dann könnten die Erwartungen reduziert und die Inflationsentwicklung eingedämmt werden.

Diese Erkenntnis setzt sich mittlerweile auch bei vielen EZB-Ratsmitgliedern durch. Monatelang wurde immer nur beschwichtigt und erklärt, die Inflation sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Jetzt dämmert vielen, dass man die Situation unterschätzt hat und sich die Inflation verfestigen könnte. Dies vor allem, weil die Gewerkschaften einen Lohnausgleich für die Teuerung fordern - die IG Metall etwa verlangt in der Stahlindustrie zum Beispiel 8,2 Prozent mehr Lohn.

Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale wächst

Nur zu gut wissen die Währungshüter, dass eine Abfolge von steigenden Preisen und höheren Löhnen, die sogenannte Lohn-Preis-Spirale, Inflation schon immer deutlich verschärft hat. Es dürfte also viel diskutiert werden in Amsterdam zwischen den unterschiedlichen Flügeln im EZB-Rat.

Die Bevölkerung kann nur hoffen, dass es klare Zeichen gibt, die stärkste Geldentwertung seit rund 40 Jahren in den Griff zu bekommen. Ob ein entsprechendes Aufbruchssignal aus dem Hermitage Museum an der schönen Amstel kommt, ist aber keineswegs sicher.

Bianca von der Au, ARD Frankfurt, 09.06.2022 09:07 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 09. Juni 2022 um 07:36 Uhr.