Lehren des Wirecard-Skandals Kontrolleure ohne Biss

Stand: 05.11.2020 12:00 Uhr

Seit Jahren wird hierzulande darüber gestritten, wie die Vorstände großer Unternehmen besser beaufsichtigt werden könnten. Nun zeigt das Kontrollversagen bei Wirecard, wie nötig Reformen sind.

Von Lothar Gries, boerse.ARD.de

Dabei ist der Fall Wirecard nur die Spitze des Eisbergs. Auch beim Abgasskandal bei Volkswagen, bei den Irrungen von ThyssenKrupp oder den schwarzen Kassen bei Siemens haben die Aufsichtsräte kein gutes Bild abgegeben. Und wo waren die Kontrolleure bei Bayer, der Commerzbank oder der Deutschen Bank, die durch falsche Weichenstellungen des Vorstands Milliardensummen vernichtet haben?

"Blinde Flecken und Missstände"

Wie können Aufsichtsräte in deutschen Unternehmen derart versagen? Was muss geschehen, damit die Regeln der guten Unternehmensführung (Corporate Governance) auch hierzulande zur Anwendung kommen?

Gerade der Fall Wirecard habe gezeigt, dass es bei der Aufsicht "einige blinde Flecken und Missstände" gebe, sagt Jella Benner-Heinacher, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Aktionärsvereins DSW. Deshalb müsse der Aufsichtsrat in seiner Aufgabe und seiner Verantwortung gestärkt werden. "Dazu gehören – und das wird ja jetzt kommen – die verpflichtende Einrichtung eines Prüfungsausschusses, ebenso wie die Pflicht des Aufsichtsrats, sich von der Leitung der Internen Revision auch ohne Beteiligung des Vorstands Bericht erstatten zu lassen", so die DSW-Vertreterin.

Aufgabe eines solchen Ausschusses ist es, die Richtigkeit der Bilanzen eines Unternehmens zu kontrollieren. Dazu hat der Gesetzgeber vorgeschrieben, dass mindestens ein Aufsichtsratsmitglied über den nötigen Sachverstand verfügen muss, um eine Bilanz "lesen" zu können.

Vorstände sollten nicht mehr in den Aufsichtsrat wechseln

Der DSW geht das nicht weit genug. Sie will, dass die Unternehmen auch ein "Kompetenzprofil" ihrer Aufsichtsräte veröffentlichen. "Nur so können Aktionäre nachvollziehen, ob im Aufsichtsrat die für das Unternehmen notwendigen Kompetenzen und Erfahrungen vorhanden sind", sagt Benner-Heinacher.

Experten monieren zudem die in Deutschland bei vielen Unternehmen immer noch übliche Praxis, dass der ehemalige Vorstandschef anschließend in den Aufsichtsrat wechselt und dort die Leitung übernimmt. Ob bei der Allianz, der Münchener Rück, bei Bayer, BASF, Linde oder SAP – tatsächlich wacht der langjährige Konzernchef in diesen Firmen über seine Nachfolger. Zwar hat der Gesetzgeber eine zweijährige Wartefrist für den Wechsel eingeführt, aber selbst die wird manchmal nicht eingehalten, etwa von BMW-Oberaufseher Norbert Reithofer.

Unabhängigkeit sieht anders aus. Deshalb fordern selbst Manager wie Rüdiger Grube, ehemaliger Vorstandschef der Deutschen Bahn und heutiger Multiaufseher, dass diese Praxis abgeschafft wird. "Es sollte künftig nicht mehr möglich sein, dass ein Ex-Vorstandsvorsitzender der neue Aufsichtsratschef seines früheren Unternehmens wird, auch nicht nach einer Cooling-off-Periode", sagte Gruber dem "Handelsblatt".

Mehr Querdenker gefordert

DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler wird noch deutlicher: "Was man in Aufsichtsräten braucht, sind Kandidaten von außen, Köpfe, die querdenken und eine gute Mischung ermöglichen", sagt er. Auch sollten Aufsichtsratsvorsitzende systematisch und ohne Aufforderung Einsicht in die Vorstandsprotokolle erhalten, damit sie besser über die Vorgänge im Unternehmen informiert sind als derzeit. Denn es könne ja schließlich nicht sein, dass die Aufsichtsräte oft die letzten seien, die merkten was Sache ist, sagt Christoph Kaserer, Professor an der TU München, der schon seit vielen Jahren intensiv mit Kapitalmärkten und besonders der Kontrolle von Unternehmen beschäftigt.

Im Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" bezeichnet er die Vorgänge bei Wirecard als "abenteuerlich". Der Aufsichtsrat unter Leitung von Wulf Matthias, der Anfang dieses Jahres zurücktrat, hätte angesichts der öffentlichen Vorwürfe schon viel früher eine Sonderprüfung einleiten müssen, so Kaserer.

Zu lange im Amt

An den dafür notwendigen Machtbefugnissen habe es nicht gelegen. Tatsächlich hat ein Aufsichtsrat schon heute die Möglichkeit, in Verdachtsmomenten einen unabhängigen Prüfer zu bestellen. Warum dies im Fall Wirecard nicht passiert ist, bleibt unklar. Kritiker monieren, dass Matthias viel zu lang im Amt war, um noch unabhängig agieren zu können. Er leitete das Kontrollgremium von 2008 bis Januar 2020. Seine reguläre Amtszeit wäre sogar bis Sommer 2021 gelaufen, obwohl Matthias dann 77 Jahre alt wäre.

Überhaupt säßen viel zu viele Aufseher, nämlich ein Viertel, zu lange auf ihren Posten, erklärt Wirtschaftsprofessor Michael Wolff von der Uni Göttingen. Das zeigt eine Analyse der 160 Unternehmen, die in den Börsenindizes Dax, MDax und SDax notiert sind.

Kontrolleure müssen aktiver werden

So überwacht der 69-jährige Karl-Ludwig Kley BMW bereits seit 2008. Deutsche-Bank-Chefaufseher Paul Achleitner macht das sogar seit 18 Jahren bei Bayer. Daimler hat allein vier Kontrolleure, die bis zu 14 Jahre dabei sind. Damit geht nach Ansicht von Governance-Experten die Unabhängigkeit verloren.

Es läuft also einiges falsch in Corporate Germany. Schärfere Gesetze seien aber nicht die Lösung, meint Ex-Bahnchef Grube. Das fördere nur noch mehr Bürokratie. Vielmehr solle ein Aufsichtsrat aktiver im Unternehmen mitarbeiten als bisher, ohne dabei zum Manager zu werden. Schließlich seien die Zeiten vorbei, in denen der Aufsichtsrat ein "Elder-Statesman-Posten zum Abnicken war. Oder ein Strippenzieher der Deutschland AG. Oder eine Art Schutzschild für den Vorstand".