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Russland verknappt Energie Was sind die Folgen der Gasdrosselung?

Stand: 27.07.2022 08:56 Uhr

Immer weniger russisches Gas fließt nach Deutschland. Welche Auswirkungen hat das für private Verbraucher und die Wirtschaft? Lassen sich die wegfallenden Mengen in diesem Winter ausgleichen?

Der vom Kreml gelenkte russische Energiekonzern Gazprom liefert wie angekündigt seit heute Morgen nur noch 20 Prozent der möglichen Menge durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Welche Auswirkungen hat die neuerliche Drosselung der russischen Gaslieferungen? Lassen sich die wegfallenden Mengen in diesem Winter ausgleichen? Was kommt auf Verbraucher zu und muss jetzt noch mehr Gas eingespart werden? tagesschau.de beantwortet einige der drängendsten Fragen.

Ist die Gasversorgung in Deutschland jetzt gefährdet?

Vorerst nicht. Im Sommer ist der Gasverbrauch in Deutschland vergleichsweise gering, weil kaum geheizt wird. Vor allem die Industrie benötigt in der aktuellen Jahreszeit Gas. Tatsächlich konnten die Gasspeicher zuletzt sogar während des zwischenzeitlichen Komplett-Stopps russischer Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 etwas aufgefüllt werden - wenn auch nur in sehr geringem Umfang. Kurzfristig ist der Gasbedarf gedeckt.

Droht im Winter ein Gasengpass?

Das lässt sich derzeit schwer seriös voraussagen. Fließt dauerhaft nur noch so wenig Erdgas durch Nord Stream 1 wie jetzt, könnte das Auffüllen der Gasspeicher zum Problem werden. Die Bundesregierung hat einen Speicherfüllstand von mindestens 95 Prozent zum 1. November als Ziel ausgegeben. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, hält das schon jetzt für nicht mehr möglich. Im besten Falle seien 80 bis 85 Prozent realistisch, wenn 40 Prozent der maximalen Kapazität durch die Ostseepipeline komme. Zuletzt waren die deutschen Erdgasspeicher nach Angaben der Behörde am Montag zu 66,8 Prozent befüllt.

Durch die erneute Drosselung der Gaslieferung wird es jetzt noch schwieriger, einen hohen Speicherfüllstand im November zu erreichen. "Wir treffen Vorsorge, damit wir durch den Winter kommen", sagt dazu Bundeswirtschaftsminister Habeck. Der Grünen-Politiker hat in der vergangenen Woche ein neues Energiesicherungspaket angekündigt. "Vom Bau einer LNG-Infrastruktur in extrem hohem Tempo über die Befüllung der Speicher bis zur Senkung des Verbrauchs - daran arbeiten wir mit ganzer Kraft", so Habeck. "Der Gasverbrauch muss runter, die Speicher müssen voll werden." Die Bundesregierung tue dafür, was immer nötig sei, versprach der Minister.

Experten sind sich derweil uneinig. "Wenn die russischen Gaslieferungen erneut zum Erliegen kommen, werden echte Engpässe im Winter wahrscheinlich unvermeidlich sein", prophezeit Patrick Herhold, Geschäftsführer und Partner der Beratungsfirma BCG. Er rechnet mit einer Lücke von 60 bis 70 Terawattstunden, "wenn wir einen durchschnittlichen Winter erleben und wenn alle derzeit diskutierten Maßnahmen (wie Gasverbrauchsenkung um 15 Prozent, Senkung der durchschnittlichen Raumtemperatur in deutschen Gebäuden um zwei Prozent, neue LNG-Terminals, Reaktivierung alter Kohle- und Ölkraftwerke, Verlängerung der drei verbleibenden Atomkraftwerke) umgesetzt werden".

Andere Fachleute sind dagegen optimistischer. Nach Berechnungen der Wirtschaftsforschungsinstitute IWH, RWI, IfW und ifo kommt es trotz einer dauerhaften Drosselung der Lieferungen im wahrscheinlichsten Fall vorerst nicht zu einem Gasmangel. Stefan Kooths, Vizepräsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, sieht die Wahrscheinlichkeit einer Gaslücke im Winter 2022 bei aktuell unter 20 Prozent. Denn im laufenden Jahr sei noch genug Gas in den Speichern, sagte er gegenüber tagesschau.de. Schwieriger könnte es 2023 werden: Mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich unter 20 Prozent könne es zu Szenarien kommen, in denen das Gas nicht reicht. Im April, Mai und Dezember 2023 würden dann bis zu sieben Milliarden Kubikmeter Gas fehlen.

Lässt sich das wegfallende russische Gas kompensieren?

Das ist die große Frage. Die Bundesregierung arbeitet derzeit daran, neue Energiequellen anzuzapfen. Der verstärkte Einkauf von Flüssigerdgas (LNG) soll einen kleinen Teil der russischen Gasmengen ersetzen. Zum Jahreswechsel sollen die ersten beiden schwimmenden LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel in Betrieb gehen.

Unsicher ist, ob die Gasimporte aus anderen Ländern erhöht werden können. Der zweitwichtigste deutsche Gaslieferant, Norwegen, arbeitet am Anschlag. Und die Niederlande, Deutschlands drittwichtigste Gasbezugsquelle, dürfen momentan nicht mehr Gas fördern. Die Regierung will ab 2023 den Betrieb des wichtigsten Gasfelds in Groningen wegen Erdbebengefahr vorerst stoppen. Sollte sich der Gas-Mangel aber verschärfen, könnte die Maßnahme verschoben werden, glauben Experten.

Kommen nicht die erhofften LNG-Mengen und bleibt der Gasverbrauch unverändert, droht spätestens im Februar eine Gaslücke von 19 Terrawattstunden, hat die Bundesnetzagentur ermittelt. Diese Berechnungen basieren aber noch auf der Annahme, dass russisches Gas zu 40 Prozent der Maximalkapazität über die Nord Stream 1 kommt. Deshalb seien neben dem Ausbau der LNG-Mengen auch Einsparungen beim Gasverbrauch nötig, sagt Karen Pittel, Energie-Expertin vom Ifo-Institut gegenüber tagesschau.de. Eine Verbrauchsreduzierung von 15 Prozent verbunden mit einer bestmöglichen Verteilung der verbleibenden Gasmengen in der EU sollte ausreichen, um die wegfallenden russischen Gasmengen zu kompensieren, meint sie. Das sehen die Erdgasspeicher-Betreiber ähnlich. Bei weiter hohen LNG-Importen sei sehr wahrscheinlich ein Füllstand von über 90 Prozent bis zum 1. November zu erreichen, sagte der Geschäftsführer des Branchenverbandes Initiative Energien Speichern, Sebastian Bleschke.

Müssen wir jetzt noch mehr Gas sparen?

Ja. Um einen Gas-Engpass im Winter zu vermeiden, sollte der Gasverbrauch um 20 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der letzten vier Jahre gesenkt werden, empfiehlt die Bundesnetzagentur. Die Bundesregierung und die EU-Kommission haben entsprechende Sparpläne ausgearbeitet. 15 Prozent Energie sollen eingespart werden. Das wäre beispielsweise möglich, wenn die Deutschen nicht mehr täglich, sondern nur noch jeden zweiten Tag duschen und die Temperatur in den Wohnungen von 22 auf 19 bis 20 Grad herunterdrehen.

Doch Experten haben Zweifel. Ob die 15 Prozent Einsparung überall erreicht werden und ob die EU-Staaten sich bei der Verteilung der Gasmengen tatsächlich solidarisch verhalten, bleibe abzuwarten, meint Karen Pittel vom ifo-Institut. Hoffnung macht aber die Entwicklung seit Jahresbeginn. In den ersten fünf Monaten des Jahres sank der Gasverbrauch in Deutschland laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) um über 14 Prozent.

Müssen Haushalte befürchten, dass das Gas ganz abgedreht wird?

Wohl kaum. Wer und wann bei einer Knappheit noch mit Gas versorgt wird, regelt der dreistufige Gas-Notfallplan. Dieser sieht eine Priorisierung vor. Demnach werden Privathaushalte bevorzugt behandelt. Das heißt: Zuerst muss bei einer Gas-Krise die Industrie Anlagen abschalten, erst als letztes wären die Privathaushalte an der Reihe.

Wird Gas jetzt noch teurer?

Davon ist auszugehen. Für August und September haben laut Vergleichsportal Verivox bereits 52 Gasversorger Preiserhöhungen von durchschnittlich 50 Prozent angekündigt. Ab Oktober dürfen zudem die Gas-Importeure wie Uniper oder VNG 90 Prozent der Mehrkosten auf die Verbraucher umlegen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) rechnet damit, dass die Gaspreise um zwei Cent je Kilowattstunde steigen. Das würde einen Vier-Personen-Haushalt mit 200 bis 300 Euro im Jahr zusätzlich belasten. Bundesnetzagentur-Chef Müller hält sogar eine Verdreifachung der Gas-Rechnungen für möglich.

Auch die Gaspreise an den Energiebörsen dürften wieder steigen. "Es wäre verwunderlich, wenn es nicht geschähe", meint Florian Starck vom Preisportal Check24. Denn die Nachfrage nach Gas sei relativ konstant, und nun müsse für den Ausfall von russischem Gas Ersatz besorgt werden. Das treibe die Preise.

Muss die Industrie ihre Produktion drosseln?

Diese Gefahr ist groß. Entscheiden muss das die Bundesnetzagentur. Sollte das Gas-Angebot geringer als der Bedarf sein, tritt die dritte Stufe des Notfallplans Gas, die Notfallstufe, in Kraft. Dann kann die Bundesnetzagentur Rationierungen vorschreiben. Viele Branchen lehnen solche Restriktionen ab. Der Verband der Chemischen Industrie warnt, dass Vorprodukte in Lieferketten fehlen, wenn der Industrie das Gas abgedreht würde. Die Bundesnetzagentur setzt auf marktwirtschaftliche Kräfte. Ein Auktionsmodell soll möglichst im Sommer starten. Es soll vor allem industriellen Großverbrauchern Anreize zum Gas-Sparen geben. Schon jetzt versuchen viele Unternehmen, Gas einzusparen. Das Potenzial ist aber begrenzt.

Chemiekonzern BASF trifft Vorsorge für Gasmangel

Marcel Fehr, SWR, tagesschau 12:00 Uhr

Woher kam zuletzt das Gas, das in Deutschland verbraucht wird?

Der Anteil der russischen Gaslieferungen ist Ende Juni auf rund 26 Prozent gesunken. Das geht aus dem "Dritten Fortschrittsbericht Energiesicherheit" hervor. Mit 20 Prozent ist Norwegen inzwischen der zweitgrößte Gaslieferant in Deutschland. Dahinter folgen die Niederlande mit 11 Prozent. Die deutsche Gasförderung trägt nur noch fünf Prozent zum Gasverbrauch bei. Zunehmend an Bedeutung gewinnt das Flüssigerdgas bei der Gasversorgung. Bisher bezieht Deutschland LNG vor allem aus den USA. Lieferungen weiterer Großexporteure wie Katar sind geplant. Mehrere Experten halten eine Unabhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas schon ab 2023 für möglich, wenn entsprechende Maßnahmen getroffen werden. "Russlands Fähigkeit, Energie als Waffe einzusetzen, wird schnell abnehmen. Schon ab 2023 halten wir es für wahrscheinlich, dass Deutschland kein russisches Gas mehr importieren muss", erklärt BCG-Geschäftsführer Patrick Herhold.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 26. Juli 2022 um 13:11 Uhr in der Sendung "Informationen am Mittag" und die tagesschau am 27. Juli 2022 um 09:00 Uhr.