
Friedenspreisträger Sen Das leise Gewissen der Ökonomie
Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Sen hat sich sein ganzes Leben lang für eine gerechte Ökonomie eingesetzt - und erhält nun dafür den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Die Idee der Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Amartya Sen. Der heute 86-jährige gilt als das Gewissen der Ökonomie. Seine Schriften zur Wohlfahrts- und Entwicklungsökonomie und seine Analysen über die Entstehung von Hungersnöten haben ihn berühmt gemacht. Er legte als einer der ersten dar, dass nicht das Fehlen von Nahrung für Hungersnöte verantwortlich ist, sondern deren falsche Verteilung.
Ein ganz anderer Ökonom
In einer seiner Kernthesen stellt Amartya Sen die traditionellen Maßstäbe seines Fachgebietes, der Wirtschaftswissenschaft, in Frage, die das Bruttoinlandsprodukt in den Mittelpunkt der Entwicklung stellen und die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten außer Acht lassen.
"Es gibt einen Gegensatz in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Entwicklung", sagt Sen. "Auf der einen Seite werden die Investitionen in den Vordergrund gestellt und auf der anderen Seite betrachtet man die Lebenssituation der Menschen, deren Freiheiten, also wirkliche Freiheit im Sinne von Möglichkeiten, sich zu entfalten, als soziale Wesen, einschließlich der tatsächlichen Teilhabe am öffentlichen Diskurs mit eigenen Meinungen, Einwänden und Entscheidungen."
Hohe Anerkennung in der akademischen Welt
Amartya Sen ist einer der bedeutenden Intellektuellen des modernen Indien. Er ist Ökonom, Soziologe und Philosoph. Seine akademische Karriere führte ihn an als Dozent und Gastprofessor an zahlreiche Eliteuniversitäten wie Stanford, Berkeley und Oxford. 1963 verließ er die Universität Cambridge und kehrte nach Indien zurück, wo er Professor für Ökonomie an der Delhi School of Economics wurde.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschrieb er unter anderem den Anspruch jedes Menschen auf Güter, Dienstleistung und Rente, unabhängig von Besitz oder gesellschaftlicher Stellung. Er befasste sich mit den Ursachen von Hungersnöten und beschrieb Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung, unter anderem die Sicherung von Zugangsmöglichkeiten zu Nahrung für jeden Menschen.
Kritiker der indischen Regierung
1998 erhielt Amartya Sen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - vor allem für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und zur Sozialwahltheorie. In seiner Heimat Indien gilt er als Kritiker des amtierenden Premierministers Modi und seiner hindu-nationalistischen Partei BJP.

An Indiens Regierungschef Modi übt Sen deutliche Kritik.
Die Ungerechtigkeiten in der indischen Gesellschaft seien ein bedeutendes Hindernis für die Entwicklung des Landes: "Eines der größten Probleme Indiens ist, dass wir überhaupt so viele Probleme haben", beklagt Sen. "Indien ist ein Land, das mit einer funktionierenden Demokratie gesegnet ist, und dabei ist wohl irgendetwas schief gelaufen, denn es ist schockierend, dass ein Drittel unserer weiblichen Bevölkerung Analphabeten sind und ein bedeutender Teil der männlichen Bevölkerung auch. Und dazu haben wir noch die höchste Rate von unterernährten Kindern in der Welt."
Auch ohne Amt und Würden einflussreich
Mit seiner Arbeit hat Amartya Sen großen Einfluss auf die Politik, ohne je Mitglied einer politischen Partei gewesen zu sein oder Regierungen direkt beraten zu haben. Er schrieb Analysen für die Vereinten Nationen, die Weltbank und ist Ehrenpräsident zahlreicher Hilfsorganisationen.
Seine eher stille und zurückhaltende Art haben dazu geführt, dass Sen außerhalb der akademischen Welt des anglo-amerikanischen Sprachraumes nur wenig bekannt ist.