Jahresrückblick 2006 Patriotismus - stolz auf Deutschland?

Stand: 21.12.2010 21:27 Uhr

Während der Fußball-Weltmeisterschaft präsentiert sich Deutschland als weltoffener Gastgeber. Doch der angeblich so unverkrampfte Patriotismus zeigt 2006 auch immer wieder sein anderes, hässliches Gesicht in Form von rechtsextremen Ausschreitungen.

Von Christoph Lütgert und Julia Salden, NDR

Was für ein Sommer! La Ola wurde zur militärischen Disziplin für deutsche Soldaten und Schwarz-Rot-Gold zur Einheitsfarbe. Public Viewing wurde zum deutschen Wort und zur Dauerbeschäftigung. Unter Nachbarn gab es ein völlig neues Wir-Gefühl. Patriotismus und Weltoffenheit - was ist davon geblieben ?

Zwei Nachbarn, die in Hamburg eine Tribüne im Hinterhof gezimmert haben, ziehen Bilanz: "Die Fahren sind eingerollt – ob Deutschland patriotischer geworden ist, kann ich nicht beurteilen", meint Andreas Aug. "Was sich in der Nachbarschaft geändert hat, ist, dass ich viel mehr Leute kenne", findet Rolf Denkewitz. "Dass sich auch Leute untereinander ansprechen, dass man sich trifft, sich verabredet.“

Weltoffen für vier Wochen

Die nächste Station unserer Spurensuche ist der vorweihnachtliche Rathausplatz von Rotenburg/Wümme. Was war hier vor einem halben Jahr los! Die Nationalmannschaft von Trinidad und Tobago machte hier Station. Die Fremden wurden gefeiert wie Freunde. Rotenburg/Wümme- eine weltoffene Stadt.

Ein Integrationskurs für Ausländer in derselben Stadt. Bei der WM, da waren die Deutschen ganz anders zu uns, sagen Ilona Lauen aus Weißrussland und John Fokwa aus Kamerun. "Jetzt schaut dich keiner mehr an auf der Straße", sagt Fokwa.

In den Stadien, auf den Rängen herrschten damals ausgelassene Fröhlichkeit und Völkerfreundschaft. Auf dem Rasen Könnerschaft und fast durchweg Fairness – vier Wochen lang.

Fairness bei der WM - Rassismus in den unteren Ligen

Nach der WM wie vor der WM – bei den Bildern in den unteren Spielklassen gibt es vielfach keinen Unterschied: Schlägereien, Antisemitismus, Krawalle, offener Hass gegen Ausländer. Die Weltmeisterschaft hat daran nichts geändert, sagt Gunter A. Pilz von der Universität Hannover: "Rassismus – wir haben ihn latent, wir haben ihn zum Teil sogar manifest in bestimmten Bereichen. Das Problem ist nach wie vor evident da", sagt der Sportwissenschaftler. "Das ist, denke ich, vier Wochen lang in der Euphorie dieser tollen Stimmung einfach weggespült worden und kommt jetzt wieder zum Vorschein.“

"Neonazis schlagen aus der Euphorie Kapital"

Aufmarsch von Neonazis dieser Tage in Celle. Am Rand immer dabei: Die Journalistin und Kamerafrau Andrea Röpke. Sie beobachtet die rechte Szene in Deutschland seit vielen Jahren. Nach der Fußballweltmeisterschaft hat sie Bilder von Neonazi-Demonstrationen mitgebracht, aus Nürnberg und anderen Städten. Röpke glaubt nicht daran, dass der unverkrampfte Patriotismus des Sommers die Neonazis in die Bedeutungslosigkeit gedrängt hat: „Wir haben die rechte Szene vor und nach der WM beobachtet – es hat sich nichts geändert", meint sie. "Eher im Gegenteil. Die Szene ist noch am Erstarken. Und sie schlagen eigentlich aus diesem Patriotismus, dieser Euphorie um den Nationalismus noch Kapital und fixen zunehmend die Jugendlichen gerade aus der Mitte der Gesellschaft an.“

"Welle der Begeisterung entgegengeschwappt"

Stuttgart vor dem Kampf der Deutschen um Platz drei. Ein emotionaler Höhepunkt des Sommers. Die Angestellten im Mannschaftshotel sind noch heute hin und weg. "Als wir hier hoch kamen und die Fenster geöffnet haben - dieser Lärm, diese Begeisterung, die da einem entgegengeschwappt ist, erinnert sich Hotel-Lehrling Philip Reusch. "Ich hätte mir gewünscht, dass es normal ist, wenn man sagt: 'Ich bin stolz, Deutscher zu sein'", sagt der Kellner Lukas-Malte Haselbacher. "Das ist ein Wunsch geblieben allein aufgrund der Tatsache, dass die Euphorie während der vier Wochen einfach abgeebbt ist. Es wird gern darüber gesprochen, es wird immer wieder erwähnt - aber letztendlich ist die Stimmung nicht mehr da, um Schwarz-Rot-Gold zu teilen."