
Einschätzung des BND Wie weit geht Putins Militär?
Zwar ist der BND aus der Ukraine abgezogen - aber dennoch bleibt das Land derzeit das wichtigste Aufklärungsziel. Deutsche Spione und Bundeswehr-Experten analysieren die russische Invasion und fragen sich: Wie weit wird Putin gehen?
Der Krieg in der Ukraine wird beobachtet, mit Satelliten aus dem Weltall, mithilfe von Informanten vor Ort, durch TV-Berichte und private Videos und Fotos in sozialen Netzwerken. Und durch abgehörte Funksprüche. Tagesaktuell analysieren die Experten des Bundesnachrichtendienstes (BND) und der Bundeswehr die russischen Truppenbewegungen und den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte. Die Prognose der Fachleute zum möglichen weiteren Verlauf des Krieges fällt dabei wenig optimistisch aus.
Im Kreml sei man fest entschlossen, den Feldzug fortzusetzen. Zumindest den Osten der Ukraine wolle Moskau zügig unter seine Kontrolle bekommen, heißt es in deutschen Sicherheitskreisen, und auch die Einnahme der Stadt Kiew sei weiterhin geplant. Die blutigste Phase des Krieges stehe womöglich erst noch bevor. Denn Putins Militär habe einige der Waffensysteme in seinem Arsenal noch gar nicht eingesetzt, zudem seien einige Einheiten, die an der Grenze bereitstünden, noch nicht herangezogen worden.
Putins Umfeld weiterhin an seiner Seite
Aktuell gebe es keine Hinweise darauf, dass der russische Angriffskrieg die Macht und den Einfluss von Putin gefährden würde. Im Gegenteil: Sein Umfeld sei dem Präsidenten gegenüber noch immer loyal. Bloße Spekulationen über den Gesundheitszustand von Putin seien nicht hilfreich, heißt es in Sicherheitskreisen, Belege für eine Erkrankung etwa gebe es nicht.
Allerdings liegen Erkenntnisse vor, wonach der russische Machthaber sich in den vergangenen Monaten zunehmend zurückgezogen habe, er soll vor allem historische und ideologische Schriften gelesen und auch eigene Traktate verfasst haben. Mit innen- oder wirtschaftspolitischen Angelegenheiten habe er sich kaum noch befasst.
Frustration im russischen Militär hoch
Das ukrainische Militär habe zwar durchaus wichtige Erfolge erzielen und mehrere Angriffswellen der Russen zurückschlagen können - auch mithilfe westlicher Waffen und Ausrüstung. Die russischen Verluste seien nach einer Woche Krieg zudem ziemlich sicher weitaus höher als die offiziellen Angaben von rund 500 toten und 1600 verletzten Soldaten, heißt es in deutschen Sicherheitskreisen.
Insgesamt habe die russische Seite wohl mit weitaus schnelleren Vorstößen und der Einnahme strategisch wichtiger Städte wie Charkiw, Cherson, Mariupol, Odessa oder Kiew gerechnet. Im russischen Militär sei die Frustration hoch, es seien logistische Fehler begangen worden, die Versorgung mit Lebensmitteln, Benzin und Munition laufe alles andere als reibungslos. Berichte über desertierte und desillusionierte Militärangehörige gelten dabei nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden als glaubhaft.
Sicherheitskreise rechnen mit Einnahme Kiews
Bei den ersten Angriffswellen seien vor allem unerfahrene, junge, oftmals wehrdienstleistende Soldaten eingesetzt worden. Möglicherweise ganz bewusst, so die Einschätzung von deutschen Sicherheitsexperten. Die Taktik könnte sein, dass diese Einheiten vielleicht sogar geopfert würden, um das ukrainische Militär zunächst in kräftezehrende Gefechte zu verwickeln und aufzureiben. Anschließend würden neue, besser ausgerüstete und wesentlich erfahrenere Einheiten eingesetzt, um etwa Belagerungsringe um Städte zu ziehen.
Es sei damit zu rechnen, heißt es in Sicherheitskreisen, dass letztendlich auch die Hauptstadt Kiew eingenommen werde. Wann dies geschehe, sei unklar. Vorangehen könnte eine längere militärische Einkreisung und Belagerung der Stadt, mit teils katastrophalen Folgen für die Bevölkerung und mit einem Zusammenbruch der Versorgung mit Trinkwasser, Lebensmittel und Strom.
In einem solchen Szenario, das deutsche Militärexperten diskutieren, könnte das russische Militär dann einen humanitären Korridor schaffen, verbunden mit dem Angebot, Zivilisten könnten die Stadt sicher verlassen. Die verbleibenden Menschen würden dann im schlimmsten Fall von Moskaus Truppen pauschal als feindliche Kombattanten angesehen und entsprechend bekämpft werden. Ähnlich wie bereits im ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er-Jahre, bei dem die Hauptstadt Grozny großflächig zerstört wurde.
BND-Präsident war in Kiew
Als die Zeichen bereits auf Krieg standen, war Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, vergangene Woche noch in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Als Signal der Solidarität und der Partnerschaft. Seine ukrainischen Kollegen hatten ihn zuvor am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz persönlich darum gebeten, den lange geplanten Besuch nicht abzusagen. Die Abreise des BND-Chefs allerdings gestaltete sich dann wesentlich schwieriger als geplant.
Am Mittwoch, 23. Februar, reiste Kahl mit einer kleinen Delegation per Flugzeug nach Kiew - der BND-Chef verfügt als einziger deutscher Behördenleiter über einen Dienstflieger. Das Flugzeug hob gleich wieder ab und flog in ein Nachbarland. Man wollte kein Risiko eingehen, dass es bei einem Raketenangriff zerstört oder gar dem russischen Militär in die Hände fallen könnte.
Deutsche Diplomaten und Spione verlassen Kiew
In Kiew wurden indes bereits die Koffer gepackt. Die deutsche Botschaft schloss vorübergehend, die Diplomaten zogen ab, und auch die deutschen Spione machten sich bereit für die Abreise. Die BND-Residentur wurde abgewickelt, brisante Dokumente und Datenträger vernichtet. Westliche Geheimdienste hielten zu diesem Zeitpunkt eine russische Invasion schon für sehr wahrscheinlich.
In den frühen Morgenstunden des Folgetages, Donnerstag, 24. Februar, erfolgte dann der russische Angriff. Auch in der ukrainischen Hauptstadt schlugen Bomben und Raketen ein. Der BND-Präsident Kahl machte sich umgehend auf den Heimweg. Mit dem Flugzeug aber war dies nicht mehr möglich, und so ging es in einem Konvoi aus mehreren Fahrzeugen Richtung Polen. Was sich schwierig und langwierig gestaltete, denn zahlreiche Ukrainer waren bereits auf der Flucht. Erst am vergangenen Freitag dann war der BND-Chef zurück in Berlin.