Polizisten vor dem Kriminalgericht Berlin-Moabit (Archiv Oktober 2020)

Tiergartenmord-Prozess Von Beruf Gewalttäter?

Stand: 25.11.2021 13:42 Uhr

Im Prozess um den Tiergartenmord hat ein russischer Journalist ausgesagt. Er lieferte zahlreiche Indizien zum Hintergrund des Angeklagten. Die Verteidigung hatte es schwer mit dem Zeugen.

Es war nur eine Frage für das Protokoll am 51. Verhandlungstag im Tiergartenmordprozess: Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi erkundigte sich bei dem jungen Mann im Zeugenstand nach seinem Wohnort. Doch für den russischen Journalisten Roman Dobrochotow ist genau dies ein Problem.

Der Chefredakteur der Investigativplattform The Insider musste seinen Wohnort Moskau kürzlich verlassen. Seine Wohnung und die seiner Angehörigen wurden durchsucht, Computer und Mobiltelefone beschlagnahmt. The Insider wurde wie andere Medien in Russland zum "ausländischen Agenten" erklärt, was deren Arbeit erheblich erschwert.

The Insider ist spezialisiert auf Recherchen zu Straftaten von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden, wie Dobrochotow vor Gericht erläuterte. Mit zwei weiteren Rechercheorganisationen deckte die Plattform Hintergründe zum Angeklagten auf: Vadim Sokolov sei ein Deckname der realen Person Vadim Krasikov, die mit russischen Sicherheitsdiensten in Verbindung stehe.

Während vor Gericht inzwischen zahlreiche Belege zu dieser These zusammengetragen wurden, beharrt Strafverteidiger Robert Unger weiter darauf, dass sein Mandant Sokolov heißt. Entsprechend versuchte Unger, die Erkenntnisse Dobrochotows und seiner Kollegen in Frage zu stellen .

Das Phantom

Sie waren nach Recherchen in staatlichen Datenbanken Russlands zu dem Schluss gekommen, dass die Person Sokolov wenige Wochen vor dem Mord im Kleinen Tiergarten erschaffen wurde. Darauf verweise eine unvollständige Steuereakte.

Dort finden sich Daten eines Inlandspasses, vergleichbar mit dem deutschen Personalausweis. Diese Daten fanden Dobrochotow und seine Kollegen aber nicht in anderen einschlägigen Datenbanken - ihrer Einschätzung nach ein Beleg dafür, dass der Inlandspass nicht existiert.

Als Unger dies anzweifelte, entgegnete Dobrochotow, die Nichtexistenz eines Dokuments sei nun einmal schwer zu beweisen. "Es wäre doch aber ein Einfaches, den Inlandspass als Beweismittel vor Gericht zu präsentieren", sagte der Journalist. Bislang präsentierte die Verteidigung keinen Beleg für die Existenz Sokolovs. Auch die vom Angeklagten erwähnte Mutter schlug sie nicht als Zeugin vor.

Auf Fragen Ungers zu weiteren Themenkomplexen reagierte Dobrochotow souverän. Als der Strafverteidiger am Ende seiner Fragen bessere Recherchearbeit von Dobrochotow forderte, war auf der Anklageseite deutlich Unmut zu hören.

Der Fahrradmörder

Ohne Belege zerfällt Ungers Verteidigungslinie, während das Bild vom Täter Krasikov immer mehr Konturen annimmt. Dobrochotow trug dazu bei, als er auf Stichpunkte der Anklageseite hin die Ergebnisse seiner Nachforschungen zusammenfasste.

Dazu zählt ein Mord in Moskau im Jahr 2013. Auf einer Kameraaufnahme ist festgehalten, wie sich ein Mann auf ein Fahrrad dem Opfer nähert und ihn dann mit mehreren Schüssen tötet.

Nicht nur ging der Täter im Kleinen Tiergarten ähnlich vor. Das Foto einer international ausgeschriebenen Fahndung der russischen Polizei nach einem Vadim Krasikov weist so große Ähnlichkeit mit dem Angeklagten auf, dass Gesichtsgutachter mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich um die gleiche Person handelt.

Behördendaten zeigen, dass Krasikov nach dem Mord mit seiner Familiein die Ukraine reiste. Dobrochotow fand einen Taxifahrer, der Krasikov von einer Fahrt an die ukrainisch-belarussische Grenze wiedererkannte. Ein Verwandter aus Charkiw, der ebenfalls als Zeuge gehört wurde, bestätigte einen Aufenthalt der Krasikovs zu dieser Zeit in der Ukraine.

Einsatz bei politischen Unruhen?

Zu einem weiteren Mord im Jahr 2007 in der russischen Region Karelien ergänzen sich ebenfalls immer mehr Hinweise. Krasikov war den Recherchen zufolge einer von drei Verdächtigen, die alle in Verbindung mit russischen Sicherheitsdiensten stehen sollen.

Einen von ihnen, mit Namen Wladimir Fomenko, erkannte der Bruder des Opfers auf einem Hochzeitsfoto Krasikovs wieder, wie dieser in einem Brief an das Gericht schrieb.

Aus den Recherchen Dobrochotows und seiner Kollegen ergab sich, dass Fomenko und Krasikov gemeinsam Reisen nach Kirgistan unternahmen. Von Präsidentin Rosa Otunbajewa bekam Fomenko eine Pistole der Marke Glock 100 geschenkt, offenbar für Tätigkeiten in Zusammenhang mit den politischen Unruhen dort.

Die meisten Erkenntnisse gewannen Dobrochotow und seine Kollegen aus öffentlich zugänglichen Datenbanken und Interviews. Partner Bellingcat erhielt auch Daten von Personen mit Zugang zu geschlossenen Datenbanken in Russland, deren Legitimität neben der Verteidigung auch Richter Arnoldi hinterfragte.

Doch zusammen mit den Ermittlungsergebnissen der deutschen Behörden verdichtet sich die These, wonach der Angeklagte in Verbindung mit der Sondereinheit Vympel des Inlandsgeheimdienstes FSB stand und womöglich seine ganze Karriere mit den "Silowiki" - dem Militär und den Sicherheitsdiensten Russlands - verbrachte.

Für Dobrochotow und sein Team von The Insider hat die investigative Arbeit persönliche Konsequenzen. Aus Angst vor Strafverfolgung mussten bereits zwei Drittel der Redaktion das Land verlassen, erzählte er. Auch dort würden sie noch mit Cyberattacken verfolgt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 28. Oktober 2021 um 05:36 Uhr.