Das Medikament Cytotec
Exklusiv

Cytotec zur Geburtseinleitung Behörden kannten Probleme seit Jahren

Stand: 24.08.2021 07:00 Uhr

Seit mehr als zehn Jahren weiß das Bundesgesundheitsministerium von Problemen beim Umgang mit dem Medikament Cytotec in der Geburtshilfe. Das zeigen interne Papiere, die nun eingesehen werden konnten.

Von Eva Achinger, BR

Bereits im Jahr 2010 hatte sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) an das Bundesgesundheitsministerium gewandt und Handlungsbedarf beim Umgang mit dem Medikament Cytotec zur Geburtseinleitung gesehen. Das zeigen interne Unterlagen aus dem Gesundheitsministerium, die der Bayerische Rundfunk und "Ippen Investigativ" über das Informationsfreiheitsgesetz erhalten haben.

Laut den Papieren hat das BfArM das Gesundheitsministerium damals über Komplikationen im Zusammenhang mit dem Medikament informiert. Aus einem Sicherheitsbericht der EU ging hervor, dass 80 Prozent der unerwünschten Arzneimittelwirkungen von Cytotec in einem Anwendungsgebiet auftreten, für die das Magenmedikament gar nicht zugelassen ist: in der Geburtshilfe und der Gynäkologie.

Riskante Dosierung, mangelnde Aufklärung

Der Bayerische Rundfunk und die "Süddeutsche Zeitung" hatten im Februar 2020 erstmals über die Probleme beim Umgang von Cytotec in der Geburtshilfe in Kliniken hierzulande berichtet. Der Wirkstoff Misoprostol, den die Tablette enthält, ist gut untersucht und kann gering dosiert künstliche Wehen auslösen. Die Recherchen hatten aber gezeigt, dass mit Cytotec in der Geburtshilfe mitunter problematisch umgegangen wird. Ärztinnen und Ärzte hatten das Medikament häufig doppelt bis viermal so hoch dosiert wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder das unabhängige Cochrane-Institut empfehlen.

In seltenen Fällen war es im Zusammenhang mit dem Medikament zu schweren Nebenwirkungen gekommen; Kinder kamen unter Sauerstoffmangel mit Hirnschaden zur Welt, Mütter erlitten einen Gebärmutterriss. Es kam zu Todesfällen von Mutter oder Kind im Zusammenhang mit dem Medikament wie Gerichtsgutachten und Patientenakten zeigen. Auch wurden Patientinnen oft nicht über die Risiken und Nebenwirkungen von Cytotec aufgeklärt.

Behörde wollte 2009 Cytotec-Einsatz reduzieren

Das BfArM schreibt nun auf Anfrage, man habe bereits 2009 versucht, die "Anwendungen außerhalb der Zulassung sowie beobachtete Nebenwirkungen zu reduzieren". Damals habe man den Hersteller dazu aufgefordert, die Produktinformationen im Beipackzettel von Cytotec anzupassen.

Gleichzeitig habe man versucht, einen Pharmahersteller zu überzeugen, Studien in der Geburtshilfe und Gynäkologie mit dem Ziel einer regulären Zulassung durchzuführen. Dieser Anregung sei der Hersteller aber nicht gefolgt, so das BfArM. Solche Arzneimittelzulassungsverfahren unter strengen Auflagen dienen dazu, das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Medikamenten zu überprüfen.

480 Verdachtsmeldungen zu Nebenwirkungen

Nachdem Medien im Frühjahr 2020 den problematischen Umgang mit dem Medikament öffentlich gemacht hatten, stieg die Zahl der Verdachtsmeldungen zu Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Cytotec in der Geburtshilfe binnen weniger Wochen sprunghaft an. Inzwischen liegen der Überwachungsbehörde BfArM insgesamt mehr als 480 Verdachtsmeldungen von medizinischem Personal und Betroffenen vor.

Zahlreiche Meldungen stammen von Müttern, die traumatische Geburten unter heftigen Wehen erlebt haben, und in einzelnen Fällen schwerwiegende Komplikationen wie einen Gebärmutterriss oder einen Schaden beim Kind mit der Gabe der Tablette in Zusammenhang bringen. Darunter sind auch neun Todesfälle. Das BfArM weist darauf hin, dass ein Verdacht ausreicht, um Komplikationen zu melden; eine Kausalbeziehung ist nicht bewiesen. 

Ministerium wollte den Einsatz von Cytotec beenden

Im Februar 2020 bat Gesundheitsminister Jens Spahn anlässlich der Debatte um die riskante Anwendung Cytotec-Tablette in der Geburtshilfe sein Haus um eine Einschätzung des Medikaments. "Brauche dazu bitte dringend Stellungnahme", schrieb der Minister in einer Mail an Ministeriumsmitarbeiter. Das zeigen interne Unterlagen, die dem BR und "Ippen Investigativ" vorliegen. Noch am selben Tag antwortet ein Mitarbeiter: Der Einsatz in der Geburtshilfe sei umstritten, "insbesondere die richtige Dosierung ist bei der Off Label Therapie schwierig", heißt es in der E-Mail. "Risiken sind insbesondere zu starke Wehen, die Mutter und Kind schaden können".

Die Weltgesundheitsorganisation zähle Misoprostol zwar zu den essentiellen Medikamenten, allerdings gelte das nur für die Anwendung unter bestimmten Bedingungen in einer "sehr niedrigen Dosierung" von 25 Mikrogramm. Das Fazit des Ministeriumsmitarbeiters: "Cytotec hat keine Zulassung für die Geburtseinleitung und auch keine Zulassungsstudie zur Dosierung und Nutzen-Risiko-Bewertung. Medizinisch überzeugende Gründe für den Einsatz in dieser Indikation liegen nicht vor." Auch sei eine "informierte Einwilligung der Patientinnen in der Geburtsphase fraglich". "Der Off-Label Einsatz sollte beendet werden."

Offizielle Warnung und Importstopp kamen spät

Warum haben die Behörden angesichts dieser klaren Einschätzung erst Wochen später die Öffentlichkeit informiert? Das Bundesgesundheitsministerium schreibt auf Anfrage, "die Bewertung des Off-Label-Use von Cytotec kommt im Rote-Hand-Brief" zum Ausdruck. Dieser habe der "raschen Information der Fachkreise" gedient. In diesem Rote-Hand-Brief werden Ärztinnen und Ärzte vor dem "unsachgemäßen Teilen" der Tablette gewarnt. Auslöser dafür waren "zahlreiche, neue Berichte über schwere Nebenwirkungen". Dieses Schreiben an Ärzte wurde allerdings erst etwa einen Monat nach Bekanntwerden der Probleme im Umgang mit Cytotec veröffentlicht. 

Und es hat über ein Jahr gedauert bis das Bundesgesundheitsministerium den Import des Medikamentes unterbinden konnte. Der Hersteller Pfizer lehnt grundsätzlich eine Anwendung von Cytotec in der Geburtshilfe ab, und verweist darauf, dass das Medikament seit 2006 nicht mehr von Pfizer in Deutschland vermarktet wird. Mediziner bezogen Cytotec seitdem über Importunternehmen aus dem Ausland. Und erst im Frühjahr dieses Jahres hat das Ministerium in Abstimmung mit dem BfArM darauf hingewirkt, dass diese bisher aktiven Importfirmen Cytotec nicht mehr regulär in Deutschland vertreiben können. 

Voraussichtlich von September an wird es in Deutschland mit dem Medikament Angusta eine niedrig dosierte zugelassene Alternative zu Cytotec mit dem gleichen Wirkstoff geben.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete unter anderem Report München am 18. Mai 2021.