Eine Krankenpflegerin arbeitet in in Schutzkleidung in einem Krankenzimmer auf der Intensivstation des Uniklinikums Essen
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Corona-Pandemie Massiver Anstieg bei anderen Krankheiten

Stand: 02.11.2021 05:00 Uhr

Wegen ausgefallener Arzt- und Krankenhausbesuche sind in der Corona-Zeit viele andere Krankheiten nicht entdeckt und behandelt worden - das zeigt eine Umfrage von Report Mainz bei Fachkliniken.

Von David Meiländer, SWR

Es sind keine schönen Tage für Peter Hollaus im Moment. Der Chefarzt der Lungenabteilung am Marienhaus Klinikum in Mainz steht in OP-Kleidung auf einem Gang, den Blick gesenkt. "Es ist für uns schon schmerzhaft", sagt er. "Wenn wir auf den Tumor-Konferenzen sitzen und sehen, dass wir keinem Patienten mit unserer Kunst mehr helfen können, weil es zu weit fortgeschritten ist. Das ist schon hart."

Früher konnten sie am Marienhaus-Klinikum gut 41 Prozent der Patienten operieren - Menschen mit meist kleineren Tumoren in der Lunge, oftmals mit guten Heilungschancen. Die Zahlen aus diesem Jahr sind ganz anders. Es gibt deutlich mehr schwere Fälle. Operieren können die Ärzte jetzt nur noch ein Viertel der betroffenen Patienten - bei den anderen sind die Tumore laut Chefarzt Hollaus so groß, dass die Patienten den Eingriff nicht überleben würden.

Deutlich schlechtere Heilungschancen

Was am Marienhaus-Klinikum in Mainz aktuell passiert, ist die Realität in vielen Kliniken in Deutschland. Report Mainz hat die 20 Krankenhäuser mit den meisten Lungenkrebs-Patienten angefragt. Von denen, die Angaben machen konnten, sehen 71 Prozent jetzt mehr Patienten mit schweren Lungentumoren als vor Corona im Jahr 2019. Auch wenn die Zahlen nicht repräsentativ sein können, geben sie eine Tendenz wieder. An der Thorax-Klinik in Heidelberg etwa beläuft sich die Steigerung nach eigenen Angaben auf 20 Prozent, auch am Evangelischen Lungenkrankenhaus in Berlin sehen die Ärzte ein Fünftel mehr Fälle mit schwerem Verlauf.

Für die Patienten heißt das: Bangen. Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium ist nur schwer behandelbar. "Das heißt, wir können durch unsere Therapien Zeit gewinnen", sagt Peter Hollaus. "Aber wir können ihnen nicht mehr eine Heilung in Aussicht stellen." Einige der Patienten, die er jetzt sehe, seien alte Bekannte: "Wir hatten gerade einen Patienten, der vor vier Monaten mit einer verdächtigen Veränderung diagnostiziert wurde, und der ist einfach heimgegangen." Jetzt sei er wieder da, nur helfen könne man ihm jetzt nicht mehr. Wahnsinnig mache ihn das, so Hollaus.

Millionen ausgefallener Behandlungen

Die Angst vor Corona, dem Infektionsrisiko in der Arztpraxis oder im Krankenhaus - sie hat im vergangenen Jahr dramatische Auswirkungen gehabt. Laut den Zahlen des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Versorgung fielen mehr als 20 Millionen Behandlungen aus. Auch Anfang 2021 kam es zu einem deutlichen Einbruch. Ähnlich war es in den Krankenhäusern. Nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK betrug der Rückgang zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, im Frühjahr 2020 waren es sogar 27 Prozent weniger als 2019.

Die Folgen spüren auch Diabetes- und Schmerzkliniken, auch hier hat Report Mainz jeweils 20 Kliniken mit den jeweils meisten Patienten angefragt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, geben aber ebenfalls eine Tendenz wieder: Bei Diabetes sehen 50 Prozent der Kliniken, die über Zahlen verfügen, eine deutliche Steigerung schwerer Fälle. Beim Schmerz berichten 44 Prozent über eine deutliche Verschlechterung der Situation ihrer Patienten - meist, weil der Arztbesuch versäumt wurde.

Für Ruth Hecker, Vorsitzende beim Aktionsbündnis Patientensicherheit, sind das Kollateralschäden einer verfehlten Krisenkommunikation im vergangenen Pandemiejahr. "Wir haben schon vor eineinhalb Jahren davor gewarnt, die Politik extra adressiert", sagt sie. "Ich glaube tatsächlich, dass der Bundesgesundheitsminister, auf den ja alle geguckt haben, an dem sich alle orientiert haben, der die Galionsfigur in der Krise war, mehr Verantwortung hätte übernehmen müssen, um Zielgruppen spezifisch zu informieren: Geht wieder in die Krankenhäuser, geht wieder in die Praxen, ruft dort an, guckt euch das an! Die sind sicher, man hätte das mit Best-Practice-Beispielen unterlegen können." Das alles sei zu wenig passiert. Die Folgen spürten wir jetzt.

Bundesregierung sieht keine Versäumnisse

Das Bundesgesundheitsministerium erklärt, man habe stets deutlich gemacht, dass lediglich medizinisch nicht dringliche Operationen verschoben werden sollten. Der Minister habe am 30. Mai 2020 an die Bevölkerung appelliert, wieder mehr zum Arzt zu gehen und im Februar 2021 für die Darmkrebsvorsorge geworben. Auch die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung habe im August 2020 auf das Thema hingewiesen, ebenso die Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Ungeachtet dessen sei darauf hinzuweisen, "dass die Entscheidung, was medizinisch-therapeutisch notwendig ist, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte treffen, die ihre Patientinnen und Patienten kennen und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände die jeweilige Situation am besten beurteilen können."

Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, wirft dem Ministerium vor, zu wenig getan zu haben: "So was muss man immer wieder kommunizieren." Wenn der Minister Sicherheit ausgestrahlt hätte, dann wäre die Sicherheit auch angekommen bei der breiten Bevölkerung, meint sie.

Wie lange die Folgen des Behandlungsausfalls zu spüren sind, ist noch unklar. Am Marienhaus Klinikum in Mainz aber fürchten die Ärzte, dass die dramatische Situation aktuell an ihrem Krankenhaus nur der Anfang ist. Denn Lungenkrebs werde oft nur zufällig entdeckt - wegen der ausgefallenen Behandlungen seien auch die Zufallsfunde weniger geworden. "Das ist eigentlich das, was einen viel mehr quält, ist, dass es einen Haufen Menschen gibt, die da draußen herumlaufen mit Lungenkrebs und es nicht wissen. Und bis sie darauf kommen, wird es zu spät sein", so Chefarzt Hollaus.

David Meiländer, SWR, 02.11.2021 17:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der Sendung Report Mainz am 02. November 2021 um 21:45 Uhr.