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Taxonomie Eine Ohrfeige für die EU-Kommission

Stand: 24.01.2022 10:01 Uhr

Atom und Gas sollen nach den Vorstellungen der EU-Kommission künftig ein grünes Label tragen. Eine Idee, die das engste Beratergremium der Kommission überrascht hat und mit der es jetzt abrechnet - in einem Schreiben, das dem NDR vorliegt.

Die fundamentale Kritik kommt ausgerechnet von den Experten, die sich die EU-Kommission selbst als Berater ausgesucht hat. 57 weltweit führende Nachhaltigkeitsexperten der Finanzwirtschaft, Vertreter der Industrie und Umweltgruppen sollten gemeinsam Regeln finden für Geldanlagen, die sich grün und nachhaltig nennen dürfen. "Plattform für nachhaltige Finanzen" heißt diese Expertengruppe. Sie sollte die Kriterien für das entwickeln, was die EU "Taxonomie" getauft hat.

Doch zu Silvester überraschte die EU-Kommission ihre eigenen Experten mit einem Vorschlag, der auch Atom- und Gaskraftwerken ein grünes Label ermöglicht. Dies kritisiert das Beratergremium nun scharf. "Die meisten Beiratsmitglieder sehen ein ernsthaftes Risiko, dass eine nachhaltige Taxonomie untergraben wird", heißt es in der offiziellen Stellungnahme zum Kommissionsentwurf, die dem NDR vorliegt.    

Grenzwerte für Gas aufgeweicht

Kritikpunkt Nummer eins für die Expertengruppe ist nicht etwa die Atomkraft, sondern das Thema Gas im Kommissionsentwurf. Insbesondere kritisiert die Plattform, dass die allgemein definierten Grenzwerte für den CO2-Ausstoß für Gaskraftwerke aufgeweicht wurden. Im Moment gilt ihre Stromproduktion nur als nachhaltig, wenn dabei weniger als 100 Gramm CO2 pro kWh entsteht. Im jetzigen EU-Entwurf gelten unter bestimmten Bedingungen Kraftwerke mit CO2-Emissionen von bis zu 270 Gramm pro kWh noch als grün.

Diesen höheren Grenzwert möchte die EU-Kommission für Kraftwerke festlegen, die später von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt werden können. Sie dürfen sogar den höheren Grenzwert von 270 Gramm pro kWh zeitweise übersteigen. Der Clou: Ihren CO2-Ausstoß dürfen diese Werke mit einem Durchschnittswert über 20 Jahre berechnen. So könnten erstmal also große Mengen klimaschädlicher Gase in die Luft gehen, bevor die Kraftwerke dann mit Hilfe von Wasserstoff auf geringere Emissionen runtergehen.

Auch indirekte Emissionen von Erdgas, etwa das sehr klimaschädliche Methan, das bei der Förderung entsteht, würden nicht berücksichtigt. So würde der Klimawandel noch erheblich befeuert, so die Mitglieder der Plattform in ihrer Stellungnahme.

Entsorgung Atommüll? - eine Frage fürs Jahr 2050

Auch den Nachhaltigkeitsstempel für Atomkraft kritisiert die Plattform. Zu unkonkret seien die Regeln der EU-Kommission und auch nicht scharf genug. Schließlich soll erst 2050 geklärt werden, wer den Atommüll eigentlich entsorgt.

Die Messlatte, die sich die EU selbst bei dem Projekt Taxonomie gesetzt hatte, sind hoch: Die gesamte Wirtschaft der EU soll auf "grün" stellen. Damit das gelingt, bedarf es gewaltiger Investitionen - finanziert vom allem aus dem Privatsektor, also auch über Geldanlagen von Verbraucherinnen und Verbrauchern.

Durch die Taxonomie sollen sie einfach erkennen können, was wirklich nachhaltig und nicht nur "Greenwashing" ist. Die selbst aufgestellten EU-Regeln dafür lauten: Nur solche Wirtschaftsaktivitäten, die einen substanziellen Beitrag zum Klimaschutz leisten und der Umwelt nicht an anderer Stelle schaden, sollen nachhaltig, also grün, heißen.

Beides gelte für Investitionen in Atom und Gas nicht, schreiben die Mitglieder der Plattform in ihrer Stellungnahme.

Grünes Label für alle war niemals Ziel

Die Experten unterstreichen, dass es nie Ziel gewesen sei, alle wirtschaftlichen Aktivitäten mit einem grünen Label zu versehen. Im Gegenteil. Deshalb arbeitet die Plattform längst an einem Label für Technologien, die für den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft gebraucht werden. Hier hätten moderne Gaskraftwerke durchaus Platz gefunden. Sie hätten, nach Vorstellung der Experten, allerdings keinen "grünen", sondern einen "orangenen" Stempel. Einen entsprechenden Entwurf wollen sie in den kommenden Wochen vorlegen.

Dies dürfte allerdings nicht nach den Vorstellungen der Bundesregierung sein. Auch sie hat zwar den Taxonomie-Entwurf der EU-Kommission kritisiert. Allerdings vor allem mit Blick auf die Atomkraft. Gegen ein grünes Label für Gaskraftwerke hat die Bundesregierung nichts. Im Gegenteil. Sie forderte die Kommission in ihrer Stellungnahme auf, die Regeln noch mehr aufzuweichen. Zum Beispiel wünscht sie sich von der Kommission nur Richtwerte und keinen festen Zeitplan dafür, wann die Gaskraftwerke überhaupt auf klimafreundlichen Wasserstoff umsteigen müssen.