
Missbrauchsfall Lügde Dritter Beschuldigter war kein Mitläufer
Stand: 29.05.2019 15:18 Uhr
Die Rolle des dritten Beschuldigten im Fall Lügde könnte viel bedeutender sein als bisher angenommen. Das ergaben Recherchen von NDR, WDR und SZ. Er soll sich über 20 Jahre und an verschiedenen Orten an Kindern vergangen haben.
Von Britta von der Heide und Stella Peters, NDR
Bisher galt Mario S. als Mitläufer im Fall des mutmaßlich massenhaften Kindesmissbrauchs im nordrhein-westfälischen Lügde. Doch nach Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" ergibt sich nun ein ganz anderes Bild.
Mario S. soll sich 20 Jahre lang und an verschiedenen Orten an Kindern vergangen haben: unter anderem auch auf einem Spielplatz in Steinheim, einem Partykeller und einer Baumarkttoilette. Der Kindesmissbrauch spielte sich also offenbar nicht nur auf dem Campingplatz in Lügde-Elbrinxen ab.
Viele Kinder schwiegen bis zur Verhaftung
Das große Ausmaß der Taten von Mario S. wurde auch den Ermittlern offenbar erst nach seiner Verhaftung klar. Im ersten Haftbefehl gegen Mario S. Anfang 2019 war zunächst vom Vorwurf zur "Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch" die Rede. Mehrere Kinder sollen in ihren ersten Vernehmungen auch bestritten haben, dass auch Mario S. ihnen etwas angetan hätte.
Nach der Verhaftung am 11. Januar offenbarten sich die Kinder ihren Eltern. So erzählte eine Mutter gegenüber NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung": "Er wurde verhaftet und urplötzlich fingen die Kinder an zu reden. Das war irgendwie so eine Art Befreiung für die, da kann uns nichts mehr passieren, die sind weg. Und dann haben sie geredet wie ein Wasserfall."
Kindesmissbrauch in Lügde: Das Trauma der Kinder
tagesthemen 22:15 Uhr, 13.05.2019, Stella Peters / Britta von der Heide, NDR
162 Einzeltaten
In einer Presseerklärung schreibt das Landgericht Detmold heute von 162 Taten an 17 Kindern, die Mario S. begangen haben soll. Der 34-Jährige galt in der öffentlichen Wahrnehmung bisher als Mitläufer des vermeintlichen Haupttäters Andreas V., gegen den die Staatsanwaltschaft Detmold bereits Anklage erhoben hat.
Der Verteidiger von Mario S. sagt gegenüber NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung": "Nach der ersten Akteneinsicht hatte ich tatsächlich den Eindruck, dass es sich hier nur um einen Mitläufer handeln kann, aber mit fortschreitendem Aktenstudium habe ich diesen Eindruck korrigieren müssen. Man muss sagen, dass sich die gegenüber meinem Mandanten angeklagten Taten fast annähern an die des immer so bezeichneten Haupttäters", so der Verteidiger Jürgen Bogner.
Ein weitreichendes Netz von Kindern
Der alleinstehende Gelegenheitsarbeiter baute sich über Jahre ein weitreichendes Netz von Kindern auf. Nach Informationen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" missbrauchte er schon als Jugendlicher wohl einen Nachbarsjungen auf einem Spielplatz in seiner Heimatstadt Steinheim. Schon früh lockte er offenbar auch Kinder in den elterlichen Partykeller und tat ihnen dort sexuelle Gewalt an.
Ab 2010 mietete er eine Parzelle auf dem Campingplatz in Lügde-Elbrinxen - zuerst gemeinsam mit einem Freund, später bezog er seine eigene Parzelle. Auch dorthin soll er ständig Kinder eingeladen und teils schwer missbraucht haben.
Der "Kindermagnet" auf dem Campingplatz
Ein Bild, an das sich viele Camper im Nachhinein erinnern: Mario S., der auf einem Rasenmähertraktor über den weitläufigen Campingplatz fährt. Im Anhänger: fröhliche Mädchen und Jungen. Vor seiner Parzelle, sagen Zeugen, hätten immer Kinderräder in verschiedenen Größen geparkt. Eine Mutter beschreibt ihn als "Kindermagnet", immer seien Kinder um ihn gewesen.
Bevor er selbst eine Parzelle anmietete, habe sich Mario S. einen Wohnwagen mit einem langjährigen Freund geteilt. Auch dessen Enkelkinder sollen mehrfach zum Opfer von Mario S. geworden sein. Die anderen Jungen und Mädchen, die er missbrauchte, waren ebenfalls Kinder von Freunden, Bekannten und Camping-Nachbarn. Diese brachten nach einiger Zeit häufig ihre Geschwister oder Freunde mit - so fand Mario S. offenbar stets neue Opfer. Die Staatsanwaltschaft wirft S. auch den sexuellen Missbrauch eines geistig behinderten Jungen vor. Zudem soll er kinderpornografisches Material angefertigt haben, indem er Fotos und Videos von seinen Taten machte.
Die Ermittlungen ergaben ebenfalls, dass eines der Opfer von Mario S. wohl auch selbst zum Täter wurde: Ein heute 16-Jähriger steht inzwischen im Verdacht, selbst Kinder missbraucht zu haben. Er sitzt in Untersuchungshaft.
Hätte er gestoppt werden können?
Nach Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" hatte das Jugendamt Höxter offenbar bereits 2017 Hinweise: Weil ein Kind im September 2017 einer Mitarbeiterin des Jugendamts Höxter erzählt haben soll, dass es bei S. im Bett schlafe und der Mann es auf den Mund küsse, verbot die Behörde den Kontakt zu Mario S..
Zudem soll der Mutter des Kindes zur Auflage gemacht worden sein, es nicht allein zu Mario S. zu lassen. Das Jugendamt Höxter äußerte sich auf Anfrage nicht zu dem Vorgang.
Offenbar ermittelten Behörden auch schon früher gegen Mario S.. Bei der Staatsanwaltschaft Paderborn gingen bereits 2004 und 2013 Anzeigen wegen des Verdachts sexuellen Kindesmissbrauchs gegen S. ein. Die Verfahren wurden aber offenbar eingestellt.
Beschuldigter täuschte Entsetzen vor
Nach der Verhaftung von Andreas V. am 6. Dezember soll Mario S. gegenüber Eltern von missbrauchten Kindern sein Entsetzen vorgetäuscht haben, zusätzlich soll er sogar befreundete Mütter von zu Opfern gewordenen Kindern nach deren polizeilichen Vernehmungen ausgefragt haben. Eine Mutter, die nach der Verhaftung von Andreas V. mit Mario S. redete, erinnerte sich, dass er sich da noch über Andreas V. aufgeregt habe und wie er das alles tun konnte.
Marios S. Verteidiger hält Andreas V. nach wie vor für den "Hauptinitiator" des Missbrauchs auf dem Campingplatz. Seinem Mandanten rät er zu einem Geständnis: "Bei 162 Taten sollte der richtige Weg sein, sich hier zu offenbaren gegenüber der Justiz. Das heißt, Ross und Reiter zu benennen, Farbe zu bekennen und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Opferschutzes Geständnisse abzulegen."
Gutachten: Pädophile Störung
Ein psychiatrisches Gutachten kommt offenbar zu dem Schluss, dass Mario S. voll schuldfähig ist und bei ihm eine pädophile Störung bestehe. Das Gutachten sieht außerdem eine hohe Rückfallgefahr. Die Staatsanwaltschaft hat daher die Sicherungsverwahrung im Falle der Verurteilung von Mario S. beantragt. Die Anklage gegen Mario S. liegt nun beim Landgericht Detmold. Die Richter müssen nun über die Zulassung der Anklage entscheiden.
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