Zoll-Mitarbeiter in einem Treppenhaus
Exklusiv

Razzia bei deutschen Firmen Kampfstoffe für Russland?

Stand: 30.08.2022 11:30 Uhr

Zollfahnder durchsuchen seit dem Morgen mehrere Firmen in Nord- und Süddeutschland. Sie gehen dem Verdacht nach, dass Firmenverantwortliche über Jahre hinweg ohne Genehmigung hochgiftige Chemikalien nach Russland ausgeführt haben.

Von Catharina Felke, Benedikt Strunz, NDR, und Florian Flade, WDR

In den frühen Morgenstunden sind Zollbeamte in der niedersächsischen Gemeinde Lilienthal, nordöstlich von Bremen, angerückt. Hier hat die Firma Riol Chemie GmbH ihren Sitz, sie steht im Zentrum von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stade. Die hat den Verdacht, dass Firmenverantwortliche in den vergangenen dreieinhalb Jahren in mehr als 30 Fällen giftige Substanzen und speziellen Laborbedarf nach Russland ausgeführt haben, ohne über die entsprechenden Genehmigungen zu verfügen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte gegenüber NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) Durchsuchungen in insgesamt sieben Firmen und Privaträumen. 50 Einsatzkräfte des Zolls seien wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz im Einsatz.

Nach Informationen von NDR, WDR und SZ glauben die Ermittler, dass sich unter den fraglichen Substanzen auch Chemikalien befinden, die als Grundstoffe für die Herstellung von chemischen und biologischen Kampfstoffen, wie etwa Senfgas, genutzt werden können. Diese sollen in Kleinstmengen überwiegend an das Unternehmen Khimmed exportiert worden sein, ein russischer Großhändler für Chemikalien und Labortechnik aus Moskau. Das geht aus Unterlagen hervor, die Reporter von NDR, WDR und SZ einsehen konnten.

Nach Informationen des Journalistennetzwerks OCCRP, die mit NDR, WDR und SZ zusammenarbeiten, hat Khimmed in  der Vergangenheit auch Speziallabore des russischen Militärs und des russischen Inlands-Nachrichtendienstes FSB beliefert.

Chemikalie für Nervengift nach Russland geliefert?

Bei mehreren der Stoffe soll es sich um Chemikalien handeln, die als sogenannte Dual-Use-Güter eingestuft werden, das heißt, sie können sowohl zivil, als auch militärisch verwendet werden. Zudem soll die norddeutsche Firma mehrfach Schutzausrüstung nach Russland geliefert haben, die auch für die Produktion von Bio- und Chemie-Waffen verwendet werden kann und deren Ausfuhr deshalb ebenfalls beschränkt ist. Zusätzlich besteht offenbar der Verdacht, dass die Riol Chemie GmbH auch eine Chemikalie ausgeführt haben könnte, die zur Herstellung des Nervengiftes Nowitschok genutzt werden kann. Offenbar legen bei einer zurückliegenden Kontrolle festgestellte Rechnungen diesen Schluss nahe. 

Nowitschok ist ein hochwirksames Nervengift, das seit den 1970er-Jahren in einem bis heute geheimen russischen Chemiewaffenprogramm hergestellt wird. Russland bestreitet die Existenz eines solchen Programms. International bekannt wurde Nowitschok im März 2018 als der russische Ex-Agent Sergei Skripal und seine Tochter im britischen Salisbury mit dem Kampfstoff vergiftet wurden, höchstwahrscheinlich von zwei Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Auch beim Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im August 2020 soll Nowitschok eingesetzt worden sein.

Im Zuge des Anschlags auf Nawalny geriet die Firma Riol Chemie GmbH bereits in den Fokus westlicher Nachrichtendienste. Die USA verhängten nach dem Attentat Sanktionen gegen russische Staatsfunktionäre und erließen Export-Restriktionen für gut ein Dutzend Unternehmen. Auf der Liste, die von der EU nicht übernommen wurde, findet sich auch die jetzt durchsuchte Riol Chemie. Auch der russische Chemiegroßhändler Khimmed, den Riol Chemie den Ermittlungen zufolge offenbar belieferte, landete auf der Liste.

Tarnfirmen und komplexe Netzwerke

Deutsche Sicherheitsbehörden verzeichnen seit Jahren verstärkte Bemühungen Russlands, sich weltweit verdeckt Materialien und Grundstoffe zu beschaffen, die auch militärisch verwendet werden können und die aufgrund westlicher Sanktionen nicht mehr ohne weiteres zu bekommen sind. Dazu gehören beispielsweise Antriebssysteme für Raketen, Chip-Technologie und auch chemische Produkte. Ob das auch im Fall der Riol Chemie so ist, muss nun ermittelt werden.

Mitte Juli hatte das Oberlandesgericht Dresden einen deutschen Unternehmer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Mann soll zwischen 2017 und 2020 in sieben Fällen Laborausrüstung im Wert von rund einer Million Euro ohne Genehmigung nach Russland exportiert haben. Und zwar an ein vom russischen Geheimdienst gelenktes Tarnunternehmen, so die Anklage.

Oftmals, so sagen Sicherheitsexperten, würde Russlands Militär einen Bedarf bestimmter Güter melden. Russische Geheimdienste würden dann damit beauftragt, diese zu beschaffen. Dies geschehe teilweise über komplexe Firmennetzwerke, Strohleute und Tarnfirmen, aber auch über direkte Ansprache und das Anwerben von Wissenschaftlern oder auch Geschäftsleuten. Aufgrund des verschärften Konflikts mit Russland und der erweiterten Sanktionen, so heißt es in Sicherheitskreisen, sei davon auszugehen, dass die verdeckten russischen Beschaffungsbemühungen in Zukunft zunehmen werden.

Ausfuhren womöglich verschleiert

Dem deutschen Zoll fiel die Riol Chemie GmbH im vergangenen Jahr bei einer Kontrolle auf. Gegen die norddeutsche Firma wurde bereits in der Vergangenheit wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz ermittelt. Unmittelbar nachdem Riol Chemie und die weiteren deutschen Firmen auf der US-Sanktionsliste landeten, gründeten ehemalige Mitarbeiter eine weitere Firma, die in Konstanz ansässige R.R. Rhein Reserve GmbH. Die Staatsanwaltschaft Stade geht dem Verdacht nach, ob diese Firma dazu genutzt werden sollte, weitere illegale Exporte nach Russland zu verschleiern.

Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass die Riol Chemie zudem gegenüber dem Zoll vorgetäuscht haben könnte, ausfuhrbeschränkte Laborgeräte nach Litauen zu verschicken. Hierfür soll die Firma mit einem Bremer Logistik-Unternehmen zusammengearbeitet haben. Tatsächlich aber sollen die Geräte für Russland bestimmt gewesen sein. In vom Verfassungsschutz abgehörten Telefonaten, sollen sich Firmenmitarbeiter darüber unterhalten haben, dass man künftige Exporte nach Russland entsprechend verschleiern könnte. Auf Nachfrage wollten sich bisher weder Verantwortliche von Riol Chemie, von R.R. Rhein Reserve noch von der russischen Khimmed zu den Vorwürfen äußern.

Firmen aus Russland gelenkt?

Die deutschen Firmen und ihre Eigner haben teilweise persönliche Verbindungen nach Russland und zu einschlägigen Firmen. Eine Auswertung russischer Handelsregister-Daten zeigt, dass ein ehemaliger Geschäftsführer der Riol Chemie GmbH zuvor Miteigentümer einer Khimmed-Tochter war, an die fragliche Substanzen geliefert worden sein sollen. Auch ein aktiver Geschäftsführer der Riol Chemie GmbH war, den Daten zufolge, zuvor Direktor der gleichen Khimmed-Tochter. Der Verfassungsschutz glaubt, dass die deutschen Firmen aus Russland gelenkt werden.

Neben den Geschäftsräumen der Riol Chemie und der R.R. Rhein Reserve wurden mehrere Privatwohnungen, eine Steuerkanzlei sowie der Sitz eines Bremer Logistikunternehmens durchsucht.

Nach den bisherigen Ermittlungen glauben die Hamburger Zollfahnder, dass die Riol Chemie GmbH relativ kleine Mengen der Chemikalien nach Russland geliefert hat. Teilweise soll es sich jeweils nur um wenige Gramm oder sogar Milligramm gehandelt haben. Die fraglichen Stoffe könnten auch für legale Zwecke exportiert worden sein, etwa als Vergleichsgrößen für die Lebensmittel- und Wasseranalytik.

Der Experte für chemische und biologische Waffen, Mirko Himmel von der Universität Hamburg, weist gegenüber dem NDR-Politikmagazin Panorama 3 allerdings darauf hin, dass auch Kleinstmengen gefährlicher Stoffe für Waffenprogramme eine wichtige Rolle spielen könnten: "Auch in einem Labor, was Chemiekampfstoffe herstellt, braucht man eine Qualitätskontrolle, eine Analytik, die Referenzsubstanzen benötigt." Mit den Referenzsubstanzen könnte man die Qualität der eigenen Produktion überprüfen.

Recherche-Team deckt verbotene Chemikalien-Lieferungen nach Russland auf

Isabel Ströh, NDR, tagesschau 17:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 30. August 2022 um 11:00 Uhr.