Eine Mitarbeiterin eines Testzentrums nimmt einen Nasenabstrich für einen Corona-Schnelltest.
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Corona-Bürgertests Geldsegen für Kassenärztliche Vereinigungen

Stand: 06.09.2022 18:00 Uhr

350 Millionen Euro haben die Kassenärztlichen Vereinigungen für die Abrechnungskontrolle von Schnelltests bekommen. Nach Recherchen von NDR, WDR und SZ verwendet zumindest die KV in Niedersachsen das Geld auch für andere Zwecke.

Bundesweit hat der Staat bisher rund zwölf Milliarden Euro für Bürgertests ausgegeben. Laut der Testverordnung aus dem Gesundheitsministerium sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen das Geld an die Teststellen auszahlen und prüfen, ob die Abrechnungen plausibel sind. 2,5 Prozent dürfen die KVen für diese Arbeit behalten, bis Mai waren es sogar 3,5 Prozent. Auf diese Weise haben die Ärzteorganisationen bundesweit bisher rund 350 Millionen Euro eingenommen.

In Niedersachsen gibt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) zu, dass sie mit der Abrechnung von Bürgertests enorme Überschüsse erwirtschaftet hat. "30 Millionen hat uns der Gesetzgeber zur Verfügung gestellt", sagt KV-Sprecher Detlef Haffke, aber "wir haben diese Summe nie gefordert." 

Zuschüsse weit über Bedarf?

Die staatlichen Zahlungen sind offenbar so großzügig bemessen, dass davon zumindest in Niedersachsen enorme Überschüsse bleiben. Die KV Niedersachsen räumt jedenfalls auf Nachfrage ein, dass sie für die Abwicklung der Tests im zurückliegenden Jahr 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt hat.

Wenn man sehr großzügig für jeden Mitarbeiter Lohn- und Nebenkosten von 100.000 Euro pro Jahr veranschlagt, hat die KV damit nicht mehr als drei Millionen Euro ausgegeben - gleichzeitig aber 30 Millionen Euro Verwaltungspauschalen kassiert. "Ob das zu viel ist, kann ich nicht beantworten", sagt KV-Sprecher Haffke. "Aber wir werden das Geld nicht zurückerstatten." Man habe die Überschüsse sinnvoll "geparkt", um damit Arztsitze in ländlichen Regionen zu fördern. 

Auskunft teilweise verweigert

Die anderen Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland zeigen sich höchst zugeknöpft, wenn man sie fragt, wie viel Überschüsse sie mit den Bürgertest-Pauschalen erzielt haben. Die KV Baden-Württemberg schreibt, "dass wir dazu keine Stellungnahme abgeben". Die KV Nordrhein stellt sich auf den Standpunkt, dass die Pauschalen "zur Finanzierung der Infrastruktur der KV genutzt" werden. Und die Kassenärtzliche Bundesvereinigung schreibt ergänzend: "Auch nach Auslaufen der Testverordnung werden die Kassenärztlichen Vereinigungen in nicht unerheblichem Umfang Abrechnungsprüfungen weiterführen müssen." 

Trotz der enormen Summen, die die KVen für die Abrechnungskontrolle erhalten, gibt es offenbar massenhaften Betrug mit den Tests. Bundesweit laufen mehrere Hundert Ermittlungsverfahren gegen Teststellen-Betreiber. Ermittler des Landeskriminalamts Berlin schätzen den Schaden durch fingierte Abrechnungen oder überteuert abgerechnete Testkits bundesweit auf mehr als eine Milliarde Euro. 

Erste Staatsanwaltschaft ermittelt

Nach Ansicht der Haushaltspolitikerin der Grünen, Paula Piechotta, haben die Kassenärztlichen Vereinigungen "bei der Kontrolle versagt". Deshalb müsse man nun prüfen, "inwiefern die KVen haftbar gemacht werden können für die unterlassene Betrugskontrolle bei den Schnelltests, denn hier ist ein immenser Schaden für die Steuerzahler entstanden". In Berlin prüft die Staatsanwaltschaft bereits Ermittlungen gegen die dortigen KV-Vorstände wegen möglicher Untreue.

Mini-Testzentrum mit großer Kapazität

Wie schlecht die Kontrolle vor Ort funktioniert, sieht man im niedersächsischen Buxtehude. So hat die KV nach Informationen von NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) im November 2021 die Zahlungen an eine Teststelle wegen Ungereimtheiten gesperrt. Der Betreiber soll seine Teststelle danach um 50 Meter verlegt und eine 1,5 mal zwei Meter große Box aufgestellt haben.

Ob das örtliche Gesundheitsamt diese vor Ort überprüft hat, bleibt unklar. Es hat diesem Mini-Testzentrum allerdings die erstaunliche Kapazität von 1000 bis 1400 Tests pro Tag bescheinigt. Die KV nahm die Zahlungen wieder auf - ohne sich die Lage vor Ort einmal angeschaut zu haben. Abgerechnet wurden bis März rund 400 Tests pro Tag.

Vorgehen nicht mehr nachvollziehbar

Das Gesundheitsamt in Stade erklärt, "nach Aktenlage" nie von der KV über den Zahlungsstopp informiert worden zu sein. Hundert Prozent sicher scheint sich das Amt aber nicht zu sein und teilt mit: "Aufgrund von zwei Personalwechseln in der fachlichen Zuständigkeit kann ich Ihnen leider kurzfristig keine weitergehenden Informationen dazu liefern".

Dass in der betroffenen Teststation kaum positive Fälle entdeckt wurden, scheint ebenfalls niemandem gestört zu haben. Während im ganzen Landkreis Stade von Oktober 2021 bis März 2022 rund 3,3 Prozent aller Bürgertests positiv waren, waren es beim Buxtehuder Testzentrum nur 0,6 Prozent. 

Stellen weisen Verantwortung gegenseitig zu

Routiniert sind die Behörden aber offenbar bis heute darin, sich die Verantwortung hin und her zu schieben. So schreibt das Gesundheitsamt Stade: "Die Abrechnung und deren Überprüfung obliegt ausschließlich der Kassenärztlichen Vereinigung." Die KV widerspricht: "Diese Aussage ist falsch. Wir sind keine Aufsichtsbehörde, die vor Ort tätig wird. Das ist Aufgabe der Gesundheitsämter." 

Der Betreiber der Teststation Buxtehude selbst will keine Fragen beantworten: Per Email schreibt er, dass inzwischen Ermittlungen gegen ihn liefen, deshalb "möchte ich mich in der Öffentlichkeit zu dem Sachverhalt nicht äußern" und ergänzt: "Ich bin selbstverständlich jederzeit bereit, den zuständigen Behörden, insbesondere der KVN, die Plausibilität meiner Abrechnungen nachzuweisen."

Andere Teststellen im Kreis Stade, die ebenfalls ungewöhnlich viele Tests und sehr niedrige Positivraten melden, erklären die Lage wiederum mit Mitarbeitern, die nicht korrekt gearbeitet hätten oder sagen, dass sie bei der Übermittlung ihrer Zahlen mehrere Teststationen zusammengefasst hätten.

Kaum Verdachtsfälle in Niedersachsen

Die Kassenärztliche Vereinigung in Niedersachsen sagt, dass sie insgesamt zehn Teststationen als Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft gemeldet hätte. Zehn von rund 4000 Schnelltest-Betreibern, die in Niedersachsen registriert sind. 

Nach einem umstrittenen Plan von Gesundheitsminister Lauterbach soll künftig das Robert Koch Institut mit in die Schnelltest-Kontrolle einsteigen im Unterschied zu den KVen soll es dafür aber kein Geld bekommen. Die Pauschalen sollten stattdessen in bisheriger Höhe weiter an die KVen fließen, wie Lauterbachs Gesundheitsministerium auf Anfrage bestätigt.

 

Selbst bei der KV ist man über diese Großzügigkeit ein wenig irritiert. Sprecher Haffke hält den Plan für "einen Webfehler im Gesetz". Höflich formuliert er: "Ich weiß nicht, ob die Juristen im Gesundheitsministerium da wirklich eine neue Strategie durchdacht haben. Aber das ist schon kurios, was da zur Zeit stattfindet."