Lina E. wurde am 6. November 2020 nach Karlsruhe zur BGH-Verhandlung gebracht.

Fall Lina E. vor dem OLG Dresden Urteil gegen eine linke Symbolfigur

Stand: 31.05.2023 05:00 Uhr

In Dresden wird das Urteil gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte erwartet. Sie sollen eine kriminelle Vereinigung gegründet und Neonazis angegriffen haben. Nach dem Ende des Linksextremismus-Verfahrens werden heftige Proteste erwartet.

Von Edgar Lopez, MDR

Am Ende ergreift noch einmal die Angeklagte das Wort. Lange habe sie überlegt, was sie sagen soll. Worte zum Verfahren oder gar den Taten werde sie nicht verlieren. "Ich möchte mich für all die Unterstützung bedanken, die ich in den letzten zweieinhalb Jahren bekommen habe", erklärt die 28-Jährige stattdessen mit resoluter Stimme und bedankt sich bei ihrer Familie, ihren Freunden und allen Unterstützern.

Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Verfahrens, das seit September 2021 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden geführt wird. Lina E. und drei Männern wird vorgeworfen eine linksextreme, kriminelle Vereinigung gegründet zu haben. Die soll zwischen 2018 und 2020 mehrere Angriffe auf Rechtsextreme und Neonazis in Sachsen und Thüringen verübt haben.

Seitdem sie im November 2020 in Handschellen gefesselt mit einem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen und dort dem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof vorgeführt wurde, ist Lina E. zu einem Symbol der linken Szene geworden. Lina E. kam in Untersuchungshaft und draußen nahm der Kampf darüber Fahrt auf, wie die Ereignisse gedeutet werden müssen - angeheizt auch dadurch, dass Behördenkreise schon kurz nach der Verhaftung mit den Worten zitiert worden, die Aktivitäten der mutmaßlichen Gruppe hätten sich "an der Schwelle zum Terrorismus" bewegt.

Hoffnung auf kurzen Prozess zerschlagen

So begann das Verfahren vor dem OLG Dresden unter großer medialer Aufmerksamkeit. Zunächst plante der Senat, das Verfahren möglicherweise schon bis Weihnachten 2021 zu beenden. Diese Vorstellung musste aber recht schnell verworfen werden. Stundenlange Befragungen zu DNA-Gutachten oder Videoaufzeichnungen konnten nicht dazu beitragen, ein klares Bild zu zeichnen. Viele der Beweisketten setzten sich allein aus Indizien zusammen.

Ebenso entwickelten sich bei den Vorladungen der Überfallopfer aus der rechtsextremen Szene teilweise stundenlange Kreuzverhöre durch die Verteidigung der Angeklagten. Exemplarisch dafür stehen die gerichtlichen Verhöre des Eisenacher Rechtsextremisten Leon R..

Der nächtliche Überfall auf ihn im Dezember 2019 brachte die Ermittlungen gegen die Angeklagten einst ins Rollen, denn am Ende jener Nacht befanden sich Lina E. und ihr Mitangeklagter Lennart A. nach einem erfolglosen Fluchtversuch in Polizeigewahrsam.

Problematische Zeugenaussage

Bereits ein paar Wochen zuvor wurde Leon R.s Kneipe "Bull's Eye" von einer Gruppe Vermummter mit Schlagstöcken und Pfefferspray überfallen. Er und weitere Zeugen des Geschehens wollen damals eine Angreiferin erkannt haben, die R. später als jene Frau identifizierte, die ihn überfallen hat.

R. war ursprünglich Hauptbelastungszeuge der Bundesanwaltschaft. Seine Aussagen wurden in ihre Anklageschrift aufgenommen. Im Lauf des Verfahrens ließen sie sich jedoch nicht zweifelsfrei erhärten. Ob bei dem Überfall auf das "Bull's Eye" tatsächlich eine Frau dabei war und R. diese auch erkannt hat, lässt sich für Beobachter im Gericht nach der Beweisaufnahme nicht sagen.

Eine Tatortrekonstruktion konnte die Aussage eines anderen Zeugen nicht stützen, eine Frau aus dem "Bull's Eye" rennen gesehen zu haben. Gegen Leon R. und weitere wird von der Bundesanwaltschaft mittlerweile selbst wegen Bildung einer rechtsextremen, kriminellen und terroristischen Vereinigung ermittelt.

Zweifel an Ermittlungsarbeit

Im Frühjahr 2022 erbrachte die Verteidigung eines Berliner Angeklagten ein Alibi für ihren Mandanten. Grundlage für den Tatvorwurf gegen ihn war ein von Ermittlern abgehörtes Gespräch, das jedoch offenbar falsch interpretiert wurde.

Es war das erste Mal, dass im Verfahren grundlegende Zweifel an der fehlerfreien Arbeit der Bundesanwaltschaft aufkamen. Im Februar 2023 erbrachte die Verteidigung des vierten Angeklagten Jannis R. ebenfalls ein Alibi für eine der angeklagten Taten. Auch in diesem Fall war die falsche Interpretation eines abgehörten Gesprächs Basis für die Verdächtigung.

Belastungszeuge aus eigenen Reihen

Bis zum Sommer 2022 hatte die Verhandlung vieles von ihrer Dynamik verloren. Das änderte sich erst, als die Anklage mit Johannes D. einen Zeugen aus dem engsten Bekanntenkreis der Tatverdächtigen präsentierte. D. sagte an insgesamt zwölf Tagen vor dem OLG Dresden aus und belastete Lina E. dabei schwer.

Laut seiner Aussage sei sie maßgeblich in die Planungen und Durchführung von Überfällen involviert gewesen. Außerdem sagte D. zu sogenannten "Szenario"-Trainings aus, bei denen die Mitglieder der Gruppe die gewalttätigen Angriffe auf ihre politischen Gegner geübt haben sollen.

Prozess basiert auf Indizien

Auch Johannes D.s Aussagen sind nicht frei von Zweifeln. Für den Staatsschutzsenat hat sein Zeugnis, vor allem zu den gemeinsamen Trainings, jedoch eine erhebliche Bedeutung, wie der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats im Verfahren mehrfach betonte.

So bleiben in den meisten Fällen am Ende Indizien, die das Gericht interpretieren muss. Auch die Bundesanwaltschaft sieht "nicht den einen, erdrückenden Beweis". Für sie ist eher "die Gesamtschau" der Geschehnisse ausschlaggebend dafür, die Vorwürfe gegen die vier Angeklagten als überwiegend bestätigt anzusehen.

Für Lina E. fordert die Bundesanwaltschaft acht Jahre Haft, für die anderen Angeklagten mehrjährige Haftstrafen. Die Verteidigung wiederum sieht überwiegend die Unschuld ihrer Mandanten bestätigt und fordert in den meisten Fällen Freispruch.

Haus mit Solidaritätsbannern für Lina E.

Für den "Tag X" der Urteilsverkündung wurden Proteste angekündigt.

Ausschreitungen angekündigt

In jedem Fall wird das Urteil wohl Folgen haben. Autonome Gruppen haben für den Samstag nach dem Urteil zu einer "Tag X"-Demonstration in Leipzig aufgerufen. Die Polizei wappnet sich für Ausschreitungen, die Anreise von Gewaltbereiten aus ganz Europa und deren Drohung, "eine Million Euro Sachschaden für jedes verurteilte Jahr" anzurichten.

Ob das so kommt, bleibt aufgrund differenzierter Stimmen aus der Szene abzuwarten. Eine Diskussion über Für, Wider und Ausprägungen politischer Gewalt wird dort längst geführt, wenn auch nicht zwingend öffentlich. Nicht wenige in der Szene bezeichnen "angesichts der hohen Fallzahlen rechtsextremer Gewalttaten" die Maßnahmen der Behörden als "maßlos übertrieben".

Weitere Radikalisierung befürchtet

BKA und Verfassungsschutz gehen davon aus, dass Personen aus dem Umfeld der Angeklagten, die teilweise auch Tatverdächtige für gewalttätige Überfälle in Budapest sind, untertauchen und sich weiter radikalisieren könnten - bis hin zur seit einigen Jahren befürchteten "Schwelle zum Terrorismus".

Vergangene Woche durchsuchte die Polizei in Jena die Wohnungen eines Mannes. Eine Verbindung zum Dresdner Verfahren ist derzeit nicht gegeben. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden verdächtigt ihn und einen weiteren Mann aber der Bildung einer kriminellen Vereinigung, die ebenfalls Überfälle auf Rechtsextreme durchgeführt haben soll.

Alexandra Gerlach, MDR, tagesschau, 31.05.2023 06:15 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 31. Mai 2023 um 06:00 Uhr.