Einer Frau mit einem Smartphone in der Hand auf einer Straße in Tiflis, Georgien
Exklusiv

Vor der Wahl in Georgien Geheimdienst hört mit

Stand: 25.10.2021 10:22 Uhr

Von der Kindergärtnerin bis zum deutschen Botschafter - in Georgien ist niemand sicher vor staatlichen Abhöraktionen. Wie vor vergangenen Wahlen wurden auch diesmal Mitschnitte veröffentlicht, Konsequenzen gibt es keine.

"Schwerwiegende Bedenken" - die in Georgiens Hauptstadt akkreditierten Botschafter fuhren kürzlich schweres diplomatisches Geschütz auf, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Die EU bestellte den georgischen Gesandten in Brüssel zum Gespräch ein.

Mitten im erbittert geführten Wahlkampf vor den Kommunalwahlen am 2. und 30. Oktober gelangten über mehrere Medien 52.000 Mitschriften Tausender heimlich aufgezeichneter Gespräche an die Öffentlichkeit. Es betraf auch Vertreter zahlreicher Länder - von Deutschland über die EU und die USA bis Israel. Bei einem Treffen mit dem Außenminister Georgiens verwiesen sie auf die Wiener Übereinkunft von 1961. Sie stellt die Unverletzlichkeit von Diplomaten, der von ihnen genutzten Räumlichkeiten und ihrer Kommunikation im Gastland sicher. Diese wurde offenbar vielfach gebrochen.

In den geleakten Files tauchen zudem Gespräche aus allen gesellschaftlichen Bereichen Georgiens auf - von der Politik über Medien und Zivilgesellschaft bis hin zu Lehrern und Kindergärtnerinnen. Viele Betroffene bestätigten die Authentizität der Zitate. Dies legt die Vermutung nahe: Es kann jeden und jede in Georgien treffen. Die aktuell geleakten Files vereint, dass sie sich auf das Thema Kirche beziehen.

Ericsson lieferte Abhörtechnik

Doch neu ist das Thema keinesfalls. Schon während der zwei Amtszeiten von Präsident Michail Saakaschwili wurde immer wieder Material von Regierungsgegnern an die Öffentlichkeit gespielt. Als seine Partei 2012 abgewählt wurde, versprachen die Nachfolger von der Partei "Georgischer Traum" Aufklärung und Veränderung.

Damals wurde immerhin einiges bekannt. Die Organisation Transparency International (TI) in Georgien erfuhr von Mitarbeitern in Telekom-Unternehmen, dass das Innenministerium "Black Boxes" in der Server-Infrastruktur aller großen Telekom-Unternehmen betrieb. Diese hätten den Sicherheitsdiensten die Möglichkeit gegeben, 21.000 Handynummern gleichzeitig zu überwachen. Unklar blieb damals, in welchem Ausmaß das Innenministerium diese Möglichkeiten zum unkontrollierten Abhören nutzte.

Die Gesetzgebung verlangte zwar schon damals eine Genehmigung für das Abhören im Rahmen von "operativen Ermittlungsmaßnahmen". Laut TI stimmten die Richter aber in der Regel ohne große Kenntnis der Ermittlungen zu. Damals wie heute gilt die Nähe der Justiz zur Politik als eines der wesentlichen Demokratie-Probleme Georgiens.

Im Herbst 2013 berichteten schwedische Medien, ein Sprecher der Firma Ericsson habe den Verkauf der "Black-Box"-Technologie an Georgiens Regierung im Jahr 2005 bestätigt. Die Technologie sei zur Verbrechensbekämpfung im Rahmen der Gesetze gedacht. Es sei aber möglich, dass sie illegal eingesetzt werde. Ericsson verkaufte die Technologie nach eigenen Angaben an das georgische Mobilfunkunternehmen Geocell, das bis 2018 eine Tochtergesellschaft des schwedisch-finnischen Telekommunikationsunternehmens TeliaSonera war.

Abhörtechnik weiter im Einsatz

Viele der Versprechen nach dem Machtwechsel 2012 verliefen im Sande. Weitere Leaks, darunter Sex-Tapes, ließen sich nur anfangs als altes Material darstellen, das unter Vorgängerregierung aufgenommen worden sei. Die aktuell veröffentlichten Files fallen in die Zeit nach 2012.

Anders als früher beziehen sie sich nicht auf einzelne Personen, sondern sind diesmal unter einer Thematik zusammengefasst. Dies erfordert entweder eine enorm hohe Zahl an Personen, die praktisch alles mithören oder eine Filtersoftware, die mit Suchworten arbeitet.

Außerdem berichten Betroffene, dass sich in den Files auch Gespräche fanden, die nicht am Telefon geführt worden waren, sondern in geschlossenen Räumen oder auf der Straße. Dass sich Smartphones aus der Ferne in Mikrofone und Kameras verwandeln lassen, zeigen die Berichte über den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus der israelischen Firma NSO. Auch die autoritär regierende Führung von Georgiens Nachbarstaat Aserbaidschan nutzte sie zum Beispiel zum Ausspionieren von Journalistinnen. NSO hatte erklärt, dass die Spähsoftware "ausschließlich überprüften Regierungen" und unter "verschärften Lizenzbedingungen" zur Verfügung gestellt werde.

"Praktisch jeder kann abgehört werden"

Die Oppositionspolitikerin Teona Akubardia ist Vizevorsitzende des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses im georgischen Parlament. Sie kritisierte im Interview mit tagesschau.de, dass es an Aufsicht über die Abhöraktionen des SSSG im zivilen Bereich mangele. Einsicht in die unter Verschluss stehenden Akten könne eine Untergruppe ihres Ausschusses nehmen. Dieser Gruppe sollen per Gesetz zwei Oppositionsmitglieder angehören. Doch sei dies im Moment aufgrund eines langwierigen Auswahlverfahrens nicht der Fall. Eine Befragung des SSSG-Chefs durch das Parlament lehnten sowohl die Regierungspartei als auch Saakaschwilis Partei UNM ab.

Akubardia sagte: "Praktisch jeder kann in Georgien abgehört werden, ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, dies zu verhindern. Nur der Premierminister und die Regierung wären dazu in der Lage."

Die Regierung stritt stattdessen alle Vorwürfe ab, beschuldigte die Opposition und verteidigte gar das Vorgehen, wie der Generalsekretär der Regierungspartei und Bürgermeister von Tiflis, Kakha Kaladze. Er sagte, der SSSG solle "alle abhören, von denen es als notwendig erachtet wird " - einschließlich Diplomaten.

Konsequenzen wurden bislang nicht aus dem Skandal gezogen. Es gab keine Entlassungen und keine Ankündigungen über eine Reform der Sicherheitsbehörden und ihrer Aufsicht, wie sie Organisationen wie Transparency International seit Jahren fordern.

Druckpotenzial autoritärer Staaten

Dies ist höchst bedenklich für Einwohner Georgiens, Diplomaten und darüber hinaus Menschen, die in Georgien Schutz suchen. In den vergangenen Monaten kamen viele Dissidenten aus Russland, Belarus und anderen Nachbarstaaten nach Georgien, weil sie sich in dem vergleichsweise demokratischen, liberalen und pro-westlichen Staat Sicherheit erhoffen.

Doch fraglich ist, wie groß diese Sicherheit am Ende ist. Ein Journalist aus dem Nachbarstaat Aserbaidschan war nach eigenen Angaben 2017 in Tiflis in Kooperation mit georgischen Behörden über die Grenze in sein Heimatland gebracht und dort zu Gefängnis verurteilt worden. Erst kürzlich trat ein Kooperationsabkommen zwischen dem SSSG und dem belarussischen Geheimdienst KGB in Kraft, der Zusammenarbeit auch bei Gefahren für die Sicherheit beider Länder vorsieht.

Georgien ist abhängig von Energielieferungen aus Russland, Gas aus Aserbaidschan und einer Sicherheitskooperation mit der Türkei. Das ist genug Druckpotenzial auf die georgische Führung. Im aktuellen Abhörskandal zeigt sie, dass sie keine Verantwortung für den Schutz der Privatsphäre sieht - ob für eigene Bürger oder andere, die zeitweise im Land leben.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. Oktober 2021 um 09:10 Uhr.