Interview

Ruprecht Polenz im Interview "Eine Fraktion schätzt Abweichler nicht"

Stand: 10.08.2015 16:40 Uhr

Die Balance zwischen freiem Mandat und Fraktionsdisziplin ist schwierig, findet der frühere CDU-Politiker Polenz. Dennoch verteidigt er im tagesschau.de-Interview Kauders umstrittene Äußerungen - und schildert, wie die Fraktion mit Abweichlern umgeht.

tagesschau.de: Volker Kauder erntet für seine Äußerungen zur Fraktionsdisziplin viel Kritik. Er habe sich als Vorsitzender disqualifiziert, sagt ein Abgeordneter sogar. Wie sehen Sie das?

Ruprecht Polenz: Eine Fraktion ist eine Gruppe, die die Arbeit unter sich aufteilt. Als Abgeordneter ist man ja nur in zwei, vielleicht drei Ausschüssen vertreten. Beim Rest der Themen verlässt man sich darauf, dass die Mehrheitsbeschlüsse, die man als Fraktion fasst, von allen vertreten und durchgesetzt werden. Insofern sind die Argumente von Kauder im Interesse der gesamten Fraktion. Die teils sehr heftige Kritik an ihm lässt diese Arbeitsweise einer Fraktion außer Acht. Bei Abstimmungen im Plenum, wo alle Fraktionsmitglieder  teilnehmen können, sieht das wieder etwas anders aus.

Wenn Kauder allerdings sagt, man müsse einzelne Abgeordnete aus bestimmten Ausschüssen abberufen, muss man wissen, dass er das nicht allein tun kann, sondern nur mit Fraktionsbeschluss.

Zur Person

Ruprecht Polenz gestaltete als CDU-Bundestagssabgeordneter für den Wahlkreis Münster fast zwanzig Jahre lang die Außen-und Sicherheitspolitik Deutschlands mit. In seinen Meinungen wich er manchmal von der Fraktionslinie ab. Der heute 69-Jährige ist u.a. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

tagesschau.de: Wird durch die von Kauder angedrohte "Strafmaßnahme" nicht das freie Mandat infrage gestellt?

Polenz: In den Medien wird es wie eine Strafmaßnahme dargestellt, ich sehe das aber nicht so. Kauder hat als Fraktionsvorsitzender die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die Beschlüsse der Fraktion umgesetzt werden. Wenn durch die Zufälligkeit der Zusammensetzung einzelner Ausschüsse, in denen beispielsweise mehrere Abweichler sind, die Mehrheit für die Politik der Fraktion gefährdet ist, dann muss er reagieren.

"Fraktion konnte meine abweichende Meinung akzeptieren"

tagesschau.de: Sie haben viele Jahre im Bundestag gesessen und galten durchaus auch als unbequem. Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Fraktionsdisziplin?

Polenz: Ich habe mich vor allem beim Ausländerrecht und der Außenpolitik von der Fraktion unterschieden. Das waren allerdings in der Regel keine Fragen, über die es ständig Abstimmungen gab. Ich habe ein einziges Mal gegen die Fraktion gestimmt: Es ging um das Recht der doppelten Staatsbürgerschaft bis zur Volljährigkeit. Ich war dafür, meine Fraktion hat dagegen gestimmt. Allerdings war ich nicht mit allen Punkten des rot-grünen Gesetzesvorschlags einverstanden, also habe ich mich enthalten.

Auch in der Frage einer möglichen der EU-Mitgliedschaft der Türkei habe ich eine Minderheitenmeinung vertreten. Ich finde, dass die Türkei eine Chance haben sollte, aufgenommen zu werden, wenn sie die Kriterien erfüllt. Ich habe allerdings immer dazu gesagt, dass ich hier eine andere Meinung habe als die Mehrheit der Fraktion und diese auch begründet. Das konnte die Fraktion akzeptieren, ich wurde trotz dieser bekannten Auffassung Ausschussvorsitzender und in den Fraktionsvorstand gewählt.

"Schröder erzwang Mehrheit durch Vertrauensfrage"

tagesschau.de: Wie geht eine Fraktion mit Abgeordneten mit abweichender Meinung um?

Polenz: Grundsätzlich schätzt eine Fraktion so etwas nicht sehr. Wir hatten eine ähnliche Situation bei den Abstimmungen über die Afghanistan-Mandate, wo es auch einige in der Fraktion gab, die die Entscheidung nicht mitgetragen haben. Das war vor allem deshalb schwierig, weil wir zwar eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament hatten, in der Bevölkerung aber waren zwei Drittel dagegen. Wenn es dann Abweichler gibt, wird man im Wahlkreis angesprochen: Warum hast du nicht so abgestimmt wie XY? Und gerade bei unpopulären Entscheidungen, zu denen auch die Griechenland-Hilfen gehören, ist es nicht so leicht, das dann zu vertreten.

Für Gerhard Schröder war diese Frage noch viel schwieriger: Als unter Rot-Grün zum ersten Mal über den Afghanistan-Einsatz abgestimmt wurde, hat er das mit der Vertrauensfrage verbunden. Er wollte unbedingt eine eigene Mehrheit von SPD und Grünen. Und die war damals wegen beträchtlicher Bedenken zahlreicher Abgeordneter quasi nur mit der Vertrauensfrage zu erzwingen. 

"Gefahr, dass Disziplin in Fraktion erodiert"

tagesschau.de: Wie stark wird von der Fraktionsspitze auf einzelne Abweichler Druck ausgeübt?

Polenz: Es gibt ja die Vorschrift, dass Abgeordnete ein paar Tage vor der Abstimmung mitteilen sollen, wenn sie anders abstimmen wollen. Daraufhin führt in der Regel der Fraktionsvorsitzende gemeinsam mit anderen, beispielsweise auch dem zuständigen Minister, Gespräche mit diesen Abgeordneten. Da versucht man dann die Argumente anzuhören und gegebenenfalls zu entkräften. Manchmal ist es auch schon ein Ziel zu sagen: 'Stimm' nicht dagegen, sondern enthalte dich.' Und man wird natürlich auch mit den Folgen konfrontiert: 'Stell dir vor, wenn wir morgen keine Mehrheit haben, kann die Regierung zurücktreten.'

Wie stark der Druck wird, hängt davon ab, wie sehr es auf jede einzelne Stimme ankommt. Bei der Großen Koalition mit ihren breiten Mehrheiten ist mein Eindruck, dass nicht sofort versucht wird, mit allen Mitteln Abweichler zu überzeugen. Allerdings birgt das auch die Gefahr, dass die Disziplin in der Fraktion erodiert. Ich denke, das war jetzt die Sorge von Kauder. Nimmt die Zahl der Abweichler deutlich zu, wird es irgendwann schwer, das wieder einzufangen. Er hat sie bei der Griechenland-Frage relativ lange gewähren lassen. Seine aktuelle Äußerung soll wohl ein Signal setzen, die eigenen Arbeitsgrundsätze wieder ernster zu nehmen.

"Es geht nur selten um Gewissensentscheidungen"

tagesschau.de: Kommt da das freie Mandat gegenüber der Fraktionsdisziplin nicht viel zu kurz?

Polenz: Es ist nicht einfach, die Balance zwischen beidem zu halten. Das freie Mandat muss vor allem dann zum Tragen kommen, wenn es sich um eine Gewissensentscheidung handelt. Aber viele politische Entscheidungen sind ja doch weit weg von den Kategorien Gut und Böse. Es geht eher um pragmatische Überlegungen, Gewichtungen von Interessen, die so oder anders ausfallen könnten.

Demgegenüber stehen echte Gewissensentscheidungen, bei denen man den Fraktionszwang ja ohnehin aufhebt: Etwa bei der Stammzellenforschung, dem Schutz des ungeborenen Lebens, Sterbehilfe, Transplantationsgesetz. Die Entscheidung über einen Auslandseinsatz bewaffneter Streitkräfte, mit dem Risiko für Leib und Leben von Soldaten, ist immer auch eine Gewissensentscheidung. Bei Griechenland kann man darüber streiten. Wenn einzelne Abgeordnete tatsächlich das Gefühl haben: Hier stehe ich und kann nicht anders, dann werden sie zu nichts gezwungen. Aber das muss nicht heißen, dass das ohne Konsequenzen bleiben muss.

tagesschau.de: Was empfehlen Sie Volker Kauder beziehungsweise den Abweichlern jetzt?

Polenz: Alle Beteiligten sollten sich in Ihren Äußerungen so weit zurückhalten, dass es die Fraktion nicht weiter auseinander treibt. Man könnte sich beispielsweise darauf verständigen, dass die Abweichler in den Ausschüssen, wo es auf die Mehrheit ankommt, mit der Fraktion zu stimmen, im Plenum dagegen. Das Problem bei einer solchen Haltung ist nur, es wirkt widersprüchlich und es ist nicht ganz einfach, es Außenstehenden zu erklären, die sich mit dem parlamentarischen Prozess nicht so gut auskennen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 10. August 2015 um 12:00 Uhr.