
Gutachten der Wirtschaftsweisen Hinweise, aber kein Zwang zu handeln
Das Gutachten der Wirtschaftsweisen öffnet Diskussionen erneut, die die Ampel-Koalition bereits als geklärt erachtet hatte. Kritik gibt es auch an den milliardenschweren "Sondervermögen".
Schon vor der offiziellen Veröffentlichung des neuen Jahresgutachtens sorgte eine Empfehlung des Sachverständigenrates für Schlagzeilen: "Wirtschaftsweise für höhere Steuern", titelte die "Süddeutsche Zeitung". Eine Forderung, die Sprengstoff für die Ampel-Koalition enthält, lehnt doch Finanzminister Christian Lindner höhere Belastungen kategorisch ab.
Im Gutachten selbst klingt das etwas zurückhaltender: Eine temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder ein befristeter Energie-Soli für Spitzenverdiener könnten "in Erwägung gezogen werden", heißt es im Abschnitt mit der Nummer 198. Verbunden mit dem Hinweis, dass höhere Steuern das Wachstum dämpfen könnten, weshalb eine zeitliche Begrenzung einer möglichen Steuererhöhung so wichtig sei.
Das Gutachten enthält aber weit mehr Hinweise für die Politik - inklusive der einen oder anderen Kritik. So bemängeln die Ökonomen im Rückblick den Zeitpunkt und die Form von Entlastungen. Die Reaktion der deutschen Fiskalpolitik sei "deutlich zu spät" erfolgt "angesichts des bereits seit Frühjahr 2022 bestehenden Risikos eines Stopps russischer Erdgaslieferungen".
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung soll die Politik in ökonomischen Fragen beraten. Die Mitglieder, die unabhängige Experten sind, erstellen regelmäßig Gutachten zur konjunkturellen Lage Deutschlands. Die Gutachten enthalten auch Prognosen und sollen wirtschaftliche Fehlentwicklungen aufzeigen.
Jeweils im November veröffentlichen die Wirtschaftsweisen ein umfangreiches Jahresgutachten. Hinzu kommen Sondergutachten und Expertisen zu ausgewählten Themen.
Manche Maßnahmen seien zudem nicht zielgerichtet genug gewesen. Der Tankrabatt beispielsweise habe nicht zum Benzinsparen angeregt. Nicht der einzige Hinweis in dem Gutachten, der FDP-Politiker Lindner missfallen dürfte.
Dass die Politik viel Geld in die Hand nimmt, um "die Energiekrise solidarisch zu bewältigen", wie es im Titel des Gutachtens heißt, begrüßen die Ökonomen. Allerdings nicht die Finanzierung über ein sogenanntes "Sondervermögen". Ähnlich wie schon der Bundesrechnungshof warnen die Wirtschaftsweisen vor mangelnder Transparenz.
Auch beim 100 Milliarden schweren Sondervermögen für die Bundeswehr sei nicht einzusehen, warum diese Ausgaben nicht über den regulären Haushalt finanziert würden. Schließlich habe sich die Bundesregierung verpflichtet, längerfristig das Zwei-Prozent-Ziel der NATO einzuhalten.
Die Vorschläge der Expertenkommission zu einer Gaspreisbremse unterstützen die Wirtschaftsweisen dagegen - was nicht sonderlich verwundert, da mit der Ökonomin Veronika Grimm ein Mitglied des Sachverständigenrats der Expertenkommission vorstand. Entlastungen bei den Energiepreisen müssten aber weiterhin mit Anreizen zum Energiesparen verbunden bleiben. Das gelte gerade für Unternehmen: Energiekosten dürften "nicht unter das langfristig zu erwartende Kostenniveau reduziert werden". Außerdem müssten Mitnahmeeffekte vermieden werden, damit nicht Unternehmen in den Genuss staatlicher Hilfen kommen, wenn sie trotz Unterstützung ihre Produktion verlagern.
Spannend wird es auch diesmal wieder sein, was die Politik aus den Empfehlungen der Ökonomen macht. Vereinfacht gesagt sind drei Möglichkeiten denkbar:
Möglichkeit 1: Ratschläge (freundlich) ignorieren
Viele Politiker haben sich in den vergangenen Jahren skeptisch gezeigt, ob Vorschläge aus der Wirtschaftswissenschaft politisch überhaupt umsetzbar seien. "Ich will Wahlen gewinnen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis", meinte der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl einmal.
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei einer Tagung von Ökonomen, Politik und Wissenschaft hätten zwar gemein, dass sie einer übergeordneten Sache dienten. Politiker müssten bei der Gestaltung des Gemeinwesens aber nicht nur die Umsetzung verantworten, sondern auch für Mehrheiten kämpfen.
Möglichkeit 2: Rosinen picken
Manch ein Politiker sucht sich bei einem dicken Wälzer wie dem Jahresgutachten nur die Punkte heraus, die ohnehin schon der eigenen Überzeugung entsprechen. Selbst dann, wenn die entsprechenden Empfehlungen in einen größeren Rahmen gehören.
Darauf deuten die ersten Reaktionen auf den aktuellen Bericht der Wirtschaftsweisen: SPD und Grüne sehen sich beim Thema einer höheren Besteuerung von Spitzenverdienern bestätigt, lehnen aber die Forderung nach einer längeren Laufzeit von Atomkraftwerken kategorisch ab.
Möglichkeit 3: Ratschläge berücksichtigen
Unbefangen kann wahrscheinlich niemand an die Empfehlungen der Wirtschaftsweisen gehen, zumal es auch innerhalb der Zunft der Ökonomen unterschiedliche Positionen und Strömungen gibt. Allerdings haben die Gutachten des Sachverständigenrates in manchen Jahren zu Korrekturen in der Politik geführt. Am bekanntesten sind sicher die Appelle in den 1970er Jahren, die Angebotsseite und damit die Investitionsbereitschaft der Unternehmen zu stärken - Empfehlungen, die, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, von der Wirtschaftspolitik aufgegriffen wurden.
Die Folgen des aktuellen Gutachtens lassen sich noch nicht abschätzen. Auch wenn die Wirtschaftsweisen mittel- bis langfristige Herausforderungen wie die Dekarbonisierung, die demografische Entwicklung und die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa benennen, richten sich die Blicke vor allem auf die aktuellen Themen zur Bewältigung der Energiekrise.
Den Aussagen der Wirtschaftsweisen könnte diesmal deshalb ein besonderes Gewicht zukommen, weil sie von allen fünf Mitgliedern des Gremiums gemeinsam getragen werden. In den vergangenen Jahren waren in den Jahresgutachten zum Teil gegenläufige Konzepte präsentiert worden, was es der Politik leicht machte, über die Empfehlungen hinwegzugehen.
Das aber wäre in der aktuellen Lage problematisch - zumal sich, wie schon lange nicht mehr, die Frage stellt, wie sich Deutschland ökonomisch aufstellt. Das bisherige Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft, die stark von billiger Energie aus dem Ausland - insbesondere aus Russland - profitierte, wird sich nicht einfach wiederherstellen lassen. Die Inflation hat sich als dauerhafter erweisen als - auch von führenden Ökonomen - noch vor einem Jahr erwartet. Und die Staatsfinanzen, die zwar im internationalen Vergleich noch recht gut dastehen, dürften wohl nicht auf Dauer über schuldenfinanzierte "Sondervermögen" immer weiter ausgedehnt werden.