
Nach Anschlag in Wien Der islamistische Terror war nie weg
Gibt es eine neue islamistische Terrorwelle in Europa? Und wie ist die Gefährdungslage in Deutschland? Die Antwort der Sicherheitsbehörden ist ernüchternd.
In den Sicherheitsbehörden sprechen sie oft von einem "Rauschen", wenn es darum geht, die aktuelle Gefährdungslage und die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus zu beschreiben. Damit gemeint ist, dass die Ermittler eine Veränderung wahrnehmen: Terrororganisationen rufen vermehrt zu Anschlägen auf, in Moscheen wird gehetzt, in Chatgruppen schwärmen Dschihadisten vom Märtyrertod. Es brodelt, so könnte man es auch beschreiben. In diesen Tagen ist das "Rauschen" deutlich lauter geworden.
Der tödliche Messerangriff auf ein homosexuelles Paar in Dresden, die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty bei Paris, der Angriff in einer Kirche in Nizza und nun ein Anschlag auf ein beliebtes Ausgehviertel in Wien - eine ganze Reihe islamistischer Gewalttaten hat Europa in den vergangenen Wochen erschüttert. Und die Stimmung ist aufgeheizt - aufgrund neuer Karikaturen in Frankreich und der klaren Haltung der französischen Regierung, die Meinungs- und Kunstfreiheit zu verteidigen.
Zeitweise aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden
Gibt es also eine neue Welle des islamistischen Terrorismus? Ist der Terror der Dschihadisten zurück? In den Sicherheitsbehörden fällt die Antwort darauf ziemlich ernüchternd aus: Er war nie weg. Zwar wurde der Kontinent seit Jahren nicht mehr von so schweren Anschlägen wie in Paris, Brüssel, Nizza oder Berlin erschüttert. Stattdessen aber gab es zahlreiche kleinere Attentate mit nur wenigen Opfern, wie jüngst in Dresden mit einem Messer oder wie im August auf der Berliner Stadtautobahn mit einem Auto ausgeführt.
Manche dieser Taten machten kaum noch große Schlagzeilen - ebensowenig wie die Festnahmen von Terrorverdächtigen, die es immer noch in erschreckender Regelmäßigkeit gibt. In der öffentlichen Wahrnehmung hatte die Bedrohung durch die Dschihadisten mit dem territorialen Ende der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ihren Höhepunkt überschritten. Das war ebenso richtig wie zugleich trügerisch. Denn die Ideologie der Islamisten ist so lebendig wie eh und je. Ihre Propaganda, die Anleitungen zum Bombenbau und vermeintliche Rechtfertigungsschriften für das Töten "Ungläubiger" finden sich noch immer massenhaft im Internet.
Hunderte hochgefährliche Islamisten in Deutschland
Zuletzt war jedoch eine endlich und spät wahrgenommene weitere Bedrohung in den Fokus gerückt: Der Rechtsterrorismus. Die größte Gefahr für die öffentliche Sicherheit, so erklärte es etwa Innenminister Horst Seehofer, gehe derzeit von Rechtsterroristen aus. Das Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Anschläge auf eine Synagoge in Halle und Shisha-Bars in Hanau sind schreckliche Belege für diese Einschätzung. In internen Analysen hieß es, Rechtsterrorismus sei die am schnellsten und am dynamischsten wachsende Bedrohung.
Gleichzeitig aber warnten die Behörden, dass der Terror der Islamisten in ganz Europa eine mindestens ebenso große Herausforderung bleibe. Noch immer habe man es auch in Deutschland mit Hunderten sehr gefährlichen Islamisten zu tun - hinzu kommt eine wachsende Zahl rechtsextremer Gefährder. Es gelte daher, die Ressourcen an Personal möglichst geschickt und klug aufzuteilen, um die potenziellen Attentäter im Blick zu behalten. "Zu viel Brot, zu wenig Butter", so beschreiben sie es in den Behörden.
Kaum noch klare Anschlagsmuster zu erkennen
Die islamistische Bedrohung hat sich zudem verändert: Sie ist vielfältiger und gleichzeitig diffuser geworden. Klare Muster sind kaum noch zu erkennen und machen die Ermittlungen schwieriger. Früher standen viele Täter direkt mit Instrukteuren der Terrormiliz IS in Syrien, Irak, Afghanistan oder Libyen in Verbindung, was ihre Entdeckung zumindest möglich machte. Oft führte abgefangene Kommunikation zur Enttarnung und schließlich zur Festnahme.
Dies ist inzwischen seltener geworden, die angehenden Attentäter sind autonomer, sie werden durch die Ideologie des IS dazu ermuntert, einfach zuzuschlagen. Dass sie dies manchmal mit einfachsten Mitteln wie Küchenmessern tun, erschwert es ebenso, solche Tatpläne rechtzeitig zu entdeckten.
In vielen Fällen sind die Attentäter den Behörden bekannt; manche von ihnen, wie auch der Täter in Wien, saßen zuvor im Gefängnis. Es stellen sich daher wichtige Fragen: Warum zeigten Deradikalisierungsmaßnahmen offenbar keine Wirkung? Warum konnten die Extremisten morden, obwohl sie auf dem Schirm der Behörden waren?
"Rauschen" wird seit neuen Mohammed-Karikaturen lauter
In Deutschland nehmen Sicherheitsbehörden aktuell eine veränderte Lage wahr, das "Rauschen" wird deutlich lauter. Auslöser dafür sind offenbar die Mohammed-Karikaturen des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo". Nicht nur in Frankreich rufen Islamisten deshalb zur Gewalt auf - sondern auch in der hiesigen Szene.
"Reaktionen zu den Ereignissen in Frankreich (…) liegen aus der gesamten Bandbreite des islamistischen Spektrums vor", heißt es beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Es gebe allgemeine Drohungen bis hin zu Gewaltaufrufen. Der Mörder des französischen Lehrers Samuel Paty werde als Märtyrer glorifiziert, dessen Ermordung als "rechtmäßige" Strafe bezeichnet.
In Baden-Württemberg soll ein junger Islamist in der vergangenen Woche angekündigt haben, einen Anschlag in Frankreich begehen zu wollen. Der Verfassungsschutz bekam dies mit, die Polizei rückte an und durchsuchte seine Wohnung. Waffen oder Sprengstoff wurden nicht gefunden, dafür aber Drogen. Der 20-Jährige kam zunächst in Untersuchungshaft.