Wegfall Neupatientenregelung Bald längere Wartezeiten für Arzttermine?
Der finanzielle Anreiz für Arztpraxen, mehr Patienten aufzunehmen, soll nächstes Jahr mit der Aufhebung der Neupatientenregelung wegfallen. Ärztinnen und Ärzte warnen vor längeren Wartezeiten für Termine - oder gar vor Aufnahmestopps.
"Wir nehmen leider keine Patienten mehr auf" - Diesen Satz könnten Menschen auf der Suche nach einem Arzttermin ab nächstem Jahr häufiger hören. Grund dafür ist eine Gesetzesänderung: Um die Krankenkassen finanziell zu stabilisieren, hat das Bundesgesundheitsministerium ein Paket auf den Weg gebracht: das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz.
Das Gesetz sieht neben verschiedenen Maßnahmen - wie erhöhte Zusatzbeiträge oder einen Zuschuss in Höhe von zwei Milliarden Euro vom Bund - den Wegfall der Neupatientenregelung vor. Als Folge warnen Ärzteverbände vor längeren Wartezeiten und möglichen Aufnahmestopps.
Was ist die Neupatientenregelung?
Vor drei Jahren ist die Neupatientenregelung zusammen mit einer erhöhten Sprechstundenzeit im sogenannten Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt worden. Sie diente als Anreiz für Praxen, mehr Termine anzubieten und mehr Menschen zu behandeln. Diese Regelung besagt, dass Leistungen an neuen Patientinnen und Patienten nicht aus einem gedeckelten Topf, sondern extrabudgetär bezahlt werden. Alle, die erstmals oder zuletzt vor über zwei Jahren in einer Praxis behandelt werden, gelten als Neupatienten.
Von den gesetzlichen Krankenkassen bekommen niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten ein Gesamthonorar ausgezahlt. Ein großer Teil davon kommt aus einem Topf der Krankenkassen. Dieser Geldtopf ist allerdings budgetiert. Das bedeutet: bis zu einer bestimmten Menge werden Leistungen von Ärztinnen und Ärzten zu 100 Prozent durch die Krankenkassen bezahlt. Darüber hinaus werden sie allerdings abgestaffelt vergütet. Wird das Budget überschritten, können Behandlungen dann etwa mit Abschlägen zu 80 oder 90 Prozent bezahlt werden. Ausgenommen von der Staffelung sind sogenannte extrabudgetäre Leistungen, wie etwa Früherkennungsuntersuchungen, wie Hautkrebs-Screenings.
Kassenärzte warnen vor schlechterer Versorgung
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung warnt in einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor der Streichung der Regel: "Es führt dazu, dass wir keinen Weg sehen, wie wir die Versorgung der Patientinnen und Patienten auf dem bisherigen Niveau aufrechterhalten können", heißt es darin. Das bedeutet wohlmöglich: weniger Neupatienten und weniger Sprechzeiten.
Die Belastungen der Pandemie, Schwierigkeiten Praxispersonal zu finden, steigende Energie-, Personal- und Materialkosten - all das führe zu einer schwierigen Situation für die Praxen.
Krankenkassen müssen sparen
Die Krankenkassen sind 2023 voraussichtlich in einem Defizit von 17 Milliarden Euro. Die Neupatientenregelung soll wegfallen, um Geld einzusparen. Laut dem Zentralinstitut für die kassenärztlichen Versorgung (Zi) könnte es sich hierbei um 400 Millionen Euro handeln - Geld, das den Praxen dann fehlen wird.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach begründet die Streichung mit fehlender Zielführung: "Weil diese Regelung dazu geführt hat, dass hier Patienten als Neupatienten geführt wurden, die in Wirklichkeit keine echten Neupatienten sind", sagte er Ende Juni in einer Pressekonferenz.
Für die Ärzteschaft stößt die Kehrtwende auf Unverständnis - schließlich sei die Definition von Neupatienten eindeutig. Auch hatte sich der SPD-Politiker in der vergangenen Legislaturperiode für die Einführung der Neupatientenregelung stark gemacht. Lauterbach begründete die volle Vergütung von Neupatienten auch damit, dass diese viel Arbeit machten und, dass sie, wenn sie keine Ärzte fänden, zur Behandlung in Kliniken auswichen.
Keine Studien zu Wirksamkeit
Laut Zahlen des Zi sind mit 20 Millionen Neupatienten im vierten Quartal 2021 mehr Neupatientinnen und -Patienten behandelt worden als im selben Zeitraum zwei Jahre zuvor. Allerdings sagten die Zahlen nichts über Wartezeiten aus, räumt das Zi ein. Zudem können sich Effekte der Pandemie auf die Regelung auswirken.
Unabhängige Studien zur Wirksamkeit der Neupatientenregelung gibt es nicht. Darauf verweisen Experten, wie der Gesundheitsökonom Simon Reif vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim: "Wir wissen nicht, ob es etwas gebracht hat. Es gibt keine aussagekräftigen Zahlen dazu, dass es einen spürbar positiven Effekt hatte. 400 Millionen Euro Einsparungen sind bei 45 Milliarden Euro GKV-Ausgaben für die ambulante Versorgung maximal ein Prozent. Das sollte nicht zum Konkurs der Praxen führen."
Auch der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen weist darauf hin, dass in der Pandemie Menschen seltener in Praxen gegangen seien. Die Wartezeiten für bestimmte Facharzttermine könnten sich zukünftig sogar verringern, schätzt der Verband - auch durch die digital einheitliche Terminvergabe. Dass es keine belastbaren Zahlen zu den Wartezeiten gibt, bestätigt auch eine parlamentarische Anfrage der Linken.
Also alles halb so schlimm?
In der Praxis der Gynäkologin Christiane Wessel in Berlin-Kreuzberg hat sich seit der Einführung der Neupatientenregel die Wartezeit verkürzt, sagt die Ärztin. Patientinnen hätten zuvor bis zu sechs Monate auf einen Termin warten müssen. Dann konnte sie eine weitere Ärztin anstellen. Aktuell liegt die Wartezeit bei drei bis vier Wochen. Durch den Zuzug von vielen jungen Frauen in die Metropole sei auch der Bedarf gestiegen.
Aber die Streichung der Neupatientenregelung hält sie nicht für das alleinige Problem, sondern die Gesamtsituation - zum Wegfall der Regelung kämen aktuell stark steigende Kosten, wie durch Mietexplosionen und voraussichtlich zweistellige Tariferhöhungen.
Dass sie beispielsweise medizinischen Fachangestellten nicht mehr Geld zahlen könne, führe auch dazu, dass diese wegen der besseren Bezahlung eher in Krankenhäusern arbeiten würden und nicht für niedergelassene Ärzte.
"Wir sind als Arztpraxen auch Unternehmen und haben die Aufgabe die ambulante gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Wenn wir immer mehr eingeschränkt werden, werden immer mehr Kolleginnen und Kollegen aufhören und nicht ersetzt werden können", erklärt Wessel.
Der demographische Wandel treffe die Gesundheitsversorgung genauso wie Renten, sagt die Ärztin. Das müsse die Gesellschaft angehen und nicht auf Ärzte abwälzen.
Protestaktion am 7. September
Nachfolger für Praxen zu bekommen, ist ein Problem - aber liegt nicht nur am Geld. "Es gibt auch eine höhere Teilzeitquote. Ärzte und Ärztinnen scheinen andere Arbeitsbedingungen zu wollen, da müsste man reagieren", sagt Gesundheitsökonom Reif. Tatsächlich steigt die Anzahl der praktizierenden Mediziner in Deutschland.
Laut der Bundesärztekammer steht allerdings jeder Fünfte kurz vor dem Ruhestand. Für die Praxen könnte die Streichung der Neupatientenregelung der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Viele wollen deshalb ihre Praxen am 7. September schließen, um an dem Tag während einer bundesweiten Aktion zu protestieren.