Interview

SPD-Innenexperte zur Eilentscheidung aus Karlsruhe "Wir müssen handwerklich besser werden"

Stand: 22.10.2015 12:20 Uhr

Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung vorläufig stark eingeschränkt. Im tagesschau.de-Interview sieht der SPD-Innenexperte Wiefelspütz trotz der Entscheidung keinen Grundsatzstreit zwischen Parlament und Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe hat die Nutzung der Vorratsdatenspeicherung vorläufig stark eingeschränkt. Trotzdem gebe es keinen Grundsatzstreit zwischen Parlament und Bundesverfassungsgericht, sagt der SPD-Innenexperte Wiefelspütz im tagesschau.de-Interview. Aber die Gesetze müssten handwerklich besser werden.

tagesschau.de: Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren der Sicherheit Vorrang vor den Bürgerrechten gegeben - so die Sicht des Bundesdatenschutz-Beauftragten Peter Schaar. Hat das Parlament die Grundrechte nicht mehr ausreichend im Blick?

Dieter Wiefelspütz: Das sehe ich ganz anders. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein außerordentlich freier Staat. Die Rechtsstaatlichkeit hat in Deutschland eine Qualität wie in keinem anderen Land der Welt. Nirgendwo gibt es einen so hohen Grundrechtsschutz. Nirgendwo gibt es ein Gericht von der Bedeutung und der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichtes. Die Kritik von Herrn Schaar entspricht nicht der Realität.

tagesschau.de: Das Verfassungsgericht hat allerdings bereits mehrfach korrigierend eingegriffen. Wird von der Politik "getestet", wie weit man gehen kann?

Zur Person

Dieter Wiefelspütz wurde am 22. September 1946 in Lünen geboren. Nach der Realschule absolvierte er zunächst eine Buchhändlerlehre. Um Jura zu studieren, holte er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach und wurde Richter am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. 1972 trat er in die SPD ein, für die er seit 1987 im Deutschen Bundestag sitzt. Wiefelspütz gehört seit 1994 dem Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion an und ist seit November 1998 Sprecher der Fraktionsarbeitsgruppe Inneres.

Wiefelspütz: Weit entfernt davon, Gesetzgebung ist keine Spielerei, bei der man etwas austestet. Unsere Sicherheitskultur entwickelt sich weiter. Aber wir stehen nicht vor einem Paradigmenwechsel.  Der Vorwurf vom "Überwachungsstaat Deutschland" ist völlig neben der Spur. Es gibt keinen Grundsatzdissens zwischen dem Verfassungsgericht und den Parlamenten im Bund oder in den Ländern. Ein typisches Beispiel ist die Online-Durchsuchung: Sie ist nicht grundsätzlich verfassungswidrig, sondern zulässig - aber mit sehr präzisen Voraussetzungen. Die automatische Kennzeichenerfassung ist nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Im Einzelfall ist sie sehr wohl zulässig -  aber mit klaren Normen. Die Vorratsdatenspeicherung wird auch zulässig sein. Davon bin ich fest überzeugt. Vielleicht gibt es Probleme im Detail, aber nicht grundsätzlich.

tagesschau.de: Es fällt allerdings schon auf, dass Karlsruhe oft eingreift, wenn es Freiheit und Bürgerrechte betrifft.

Wiefelspütz: In Einzelheiten kann man ja auch unterschiedlicher Auffassung sein. Es geht um wichtige Detailfragen, die ich nicht verniedlichen will. Aber alle wichtigen Entscheidungen, die der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren getroffen hat, wurden vom Verfassungsgericht nicht im Grundsatz in Frage gestellt, sondern eher im juristischen Kleingedruckten, wenn Sie so wollen. Dieser Diskussionsprozess ist völlig in Ordnung. Normen, die in Grundrechte eingreifen, müssen besonders präzise und klar sein. Da sollten wir handwerklich besser werden. Das ist die Botschaft des Bundesverfassungsgerichts. Ich kann nicht erkennen, dass das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber misstraut oder glaubt, wir seien einer Sicherheitshysterie verfallen. 

tagesschau.de:  Der Gesetzgeber muss das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung berücksichtigen. Sehen Sie sich da durch Karlsruhe eingeschränkt?

Wiefelspütz: Nein, das Gericht genießt zu Recht großes Vertrauen. Das schließt nicht aus, dass man hin und wieder berechtigte Kritik am Gericht äußern darf. Verbrechensbekämpfung ist wichtig. Die findet aber im Rechtsstaat statt, nicht außerhalb. Totale Sicherheit gibt es nicht. Die Freiheit ist letzten Endes in der Abwägung verschiedener Werte noch ein wenig wichtiger als Sicherheit.

tagesschau.de:  Sie sind seit 1987 im Bundestag. Was hat sich in der Debatte um Freiheit und Sicherheit zwischen Parlament und Verfassungsgericht verändert?

Wiefelspütz: Die Bundesrepublik hat sich als Rechtsstaat weiterentwickelt. Wir sind in den vergangenen Jahren freier geworden und nicht etwa weniger frei. Das Bundesverfassungsgericht hat daran einen wichtigen Anteil. Aber wie gesagt: Parlament und Verfassungsgericht führen keinen Grundsatzstreit.

Das Interview führte Wolfram Leytz, tagesschau.de