
Prozess gegen KZ-Wachmann Überlebende wollen späte Gerechtigkeit
Stand: 23.07.2020 04:10 Uhr
Heute wird das Urteil gegen einen SS-Wachmann im KZ Stutthof erwartet. Das Verfahren ist womöglich die letzte Möglichkeit, auch die Schuld der Helfer am NS-Massenmord juristisch festzustellen.
Von Julian Feldmann, NDR
Nach 45 Verhandlungstagen geht heute der Prozess gegen Bruno D. zu Ende. Seit Oktober 2019 muss sich der heute 93-Jährige vor dem Landgericht Hamburg wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen verantworten.
Von August 1944 bis April 1945 gehörte D. zur SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Stutthof bei Gdansk (damals Danzig), sorgte mit dem Gewehr in der Hand etwa auf den Wachtürmen dafür, dass keiner der Gefangenen fliehen konnte. Zur SS war D. nicht freiwillig gekommen, seine Wehrmachtseinheit war zum SS-Totenkopfsturmbann überstellt worden. Doch er hätte sich, so ein Sachverständiger während des Prozesses, aus dem Konzentrationslager versetzen lassen können.
Weil Bruno D. während seiner Dienstzeit im KZ erst 17 und 18 Jahre alt war, findet der Prozess vor einer Jugendstrafkammer des Landgerichts statt. Das Verfahren gegen den 93-Jährigen könnte das letzte gegen einen Wachmann aus einem Konzentrationslager sein. Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring betonte zum Prozessbeginn die "herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung" des Verfahrens. Auch deswegen lief der Prozess trotz Corona-Pandemie weiter.
Nebenkläger hoffen auf Verurteilung
Für viele Überlebende und Angehörige von Ermordeten ist es wichtig, dass der Prozess stattfindet und dass auch durch die deutsche Justiz festgestellt wird: Das, was die Deutschen im KZ Stutthof getan haben, war ein Massenmord - und auch die kleinen Helfer wie die Wachleute haben Unrecht getan.
Eine Verurteilung wünschen sich die meisten Nebenkläger. "Unsere Mandantinnen sinnen dabei nicht auf Rache. Ihre größte Genugtuung ist, dass sie überlebt und es geschafft haben, Familien zu gründen und weiterzuleben", sagten die Rechtsanwälte Onur Özata, Ernst Freiherr von Münchhausen und Mehmet Daimagüler in ihrem gemeinsamen Plädoyer.
Am Hamburger Stutthof-Verfahren beteiligen sich 40 Nebenkläger. Darunter ist auch Rosa Bloch. Die Holocaust-Überlebende sagte im Prozess gegen Bruno D. aus: "Ich beschuldige die Menschen, die uns bewacht haben, und ich werde ihnen nie verzeihen. Und ich werde nie vergessen, was sie uns angetan haben." In Richtung des Angeklagten sagte sie: "Gerade die, die oben auf den Wachtürmen waren, konnten alles sehen."
Möglicherweise das letzte Urteil zum Holocaust
Nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, den das Landgericht München II 2011 wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Menschen verurteilte, fingen die deutschen Strafverfolger an, Wachpersonal von anderen Konzentrationslagern zu überprüfen. Das Urteil gegen den einstigen Aufseher im Vernichtungslager Sobibor sorgte für eine Änderung der Rechtspraxis. Seitdem wurden einige Greise vor Gericht gestellt, denen Staatsanwälte nachweisen konnten, dass sie in KZ ihren Dienst getan haben, in denen systematisch gemordet wurde. Derzeit laufen noch rund 20 solcher Ermittlungsverfahren.
Um die Frage, wie viel Schuld einen einzelnen SS-Wachmann am tausendfachen Morden im KZ trifft, geht es in den Verfahren gegen die letzten mutmaßlichen Täter. Die Haupttäter von damals sind längst gestorben, die meisten blieben unbehelligt von der deutschen Justiz. Nun steht in Hamburg einer der letzten noch lebenden Wachmänner vor Gericht. Möglicherweise wird die Jugendkammer des Landgerichts Hamburg das letzte Urteil zum Holocaust sprechen.
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