Bilanz der Türkischen Gemeinde zu NSU-Ermittlungen "Es gibt ein riesiges Rassismusproblem"

Stand: 01.11.2012 12:37 Uhr

Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat zum NSU-Komplex eine bittere Bilanz gezogen. Ihr Vorsitzender Kolat kritisiert die schleppende Aufklärung und fordert einen massiven Umbau des Verfassungsschutzes.

Zum Jahrestag der Aufdeckung der rechtsextremen Terrorzelle NSU hat sich die Türkische Gemeinde in Deutschland verbittert über die schleppende Aufklärung gezeigt. Deren Vorsitzender Kenan Kolat kritisierte es als "unglaublich, dass Vertuschungsversuche da sind und wir nicht wissen, was mit zerschredderten Akten passiert ist".

Die Politik wolle zudem nicht wahrhaben, dass es in Deutschland "ein riesiges Rassismusproblem" gebe. Im Zusammenhang mit der Aufklärung der Morde an Migranten führe die Bundesregierung "eine Pannendebatte", kritisierte Kolat. Nötig sei aber eine Debatte über die Ursachen.

Kolat erhob zudem schwere Vorwürfe gegen die Verfassungsschutzämter, denen im Zusammenhang mit den Ermittlungen Versäumnisse vorgeworfen werden: Sie gefährdeten in ihrer jetzigen Form den demokratischen Rechtsstaat, weil sie ein Eigenleben führten. Kolat forderte personelle Veränderungen in den Ämtern auch auf unteren Ebenen, die damals in Verantwortung gestanden hätten. Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden müssten künftig im Umgang mit Menschen anderer Herkunft geschult werden.

Großes Lob für Untersuchungsausschuss

Die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag lobte Kolat hingegen. "Ich frage mich, was wäre denn, wenn wir keinen Untersuchungsausschuss hätten", sagte er. Die Arbeit des Ausschusses werde allerdings konterkariert, indem Unterlagen nicht eingereicht, vorsortiert oder gar geschreddert würden.

Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy beklagte ebenfalls tiefsitzende Ressentiments gegen Zuwanderer im deutschen Sicherheitsapparat. "Wir haben es mit einem Struktur- und Mentalitätsproblem zu tun", sagte der SPD-Politiker. In großen Teilen der Sicherheitsbehörden sei hartnäckig geleugnet worden, dass es in Deutschland Rechtsterrorismus geben könne. "Wir brauchen mehr Sensibilität bei den Behörden", forderte Edathy.

Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Mordserie, Barbara John, schlug die Einrichtung einer Stiftung vor, um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Bei Gedenktafeln dürfe es nicht bleiben. Nach Johns Angaben sind viele der Hinterbliebenen neben der seelischen Belastung auch in einen finanziellen "Abwärtsstrudel" geraten. Nur mit Mühe sei es bislang gelungen, diesen Menschen wenigstens etwas zu helfen.

NSU vor fast einem Jahr aufgeflogen

Die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds war am 4. November 2011 aufgeflogen, als sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Banküberfall das Leben nahmen. Kurz darauf stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Das Trio wird für bundesweit neun Morde an Migranten zwischen 2000 und 2006 und den Mord an einer Polizistin im Jahr 2007 verantwortlich gemacht. Zudem sollen sie zwei Bombenanschläge in Köln verübt haben.

Warum die Behörden der Gruppe nicht früher auf die Spur kamen, sollen derzeit Untersuchungsausschüsse des Bundestags und in drei Länderparlamenten klären.