20 Jahre tagesschau.de Als das Internet noch Neuland war

Stand: 01.08.2016 09:27 Uhr

Premieren, Entwicklergeist und Start-up-Atmosphäre – mit der Übertragung von Fernsehen ins Netz war das Online-Team von tagesschau.de 1996 ganz weit vorn. Anfangs von Skepsis begleitet, siegte am Ende die Begeisterung. Heute feiert tagesschau.de 20. Geburtstag.

"Da steht 'forbidden' - verboten ist hier nichts für mich. Ich bin Chef vom Dienst bei der tagesschau!" Niels Rasmussen erinnert sich schmunzelnd an den Anruf in der Onlineredaktion vor knapp 20 Jahren. Dem Kollegen war leicht zu helfen: Er hatte einen falschen Link eingegeben, sich bei der URL vertippt.

Die Unterstützung in allen digitalen Lebensfragen gehörte ganz selbstverständlich in den Anfangsjahren von tagesschau.de zu den Aufgaben der Onliner. Rasmussen - heute Multimedia-Chef beim NDR - war damals einer der ersten Mitarbeiter der Nachrichtenwebsite der ARD.

Das erste Team war klein, offen für Neues und mehrheitlich langhaarig. (Das klingt nach Klischee, stimmt aber.) Das Büro war auch klein, verraucht, lag am Ende des Flurs und eine Kaffeemaschine sorgte ständig für Nachschub. Damals gab es noch kein Rauchverbot. Die Kolleginnen vom nachtmagazin im Nachbarbüro stopften den Spalt unten an der Tür deshalb mit Papier zu.

Robert Amlung, technikbegeisterter Fernsehredakteur, war der Pionier der Online-Ära bei ARD-aktuell. Zusammen mit seinem Kollegen Georg Grommes entdeckte er das Potenzial von Fernsehen - heute würden wir Video sagen - im Netz. Erst fünf Jahre vorher, 1991, hatte der Webpionier Tim Berners-Lee den ersten Webbrowser öffentlich vorgestellt. Erst die machten die Darstellung von Inhalten im Netz möglich.

"Mutter und Herz des Online-Projekts"

Beim amerikanischen Sender CBS entdeckte Amlung, was er als DAS Potenzial für die tagesschau und Nachrichten generell erkannte: "Die hatten eine Seite testweise ins Netz gestellt mit einem Video, nur briefmarkengroß, aber ich habe sofort gesehen, die Kombination Video im Internet und Nachrichten könnte klappen", erinnert sich der heutige Digitalbeauftragte beim ZDF. Das war im Herbst 1995.

"Amlung war Mutter und Herz der ganzen Entwicklung", sagt Ulrich Deppendorf, damaliger Chefredakteur aller tagesschauen, der tagesthemen sowie des gerade an den Start gebrachten nachtmagazins. Er ließ sich überzeugen und Amlung bastelte: "Ich war praktisch mein eigener Webmaster", schwärmt der Entwickler.

Doch das erste Konzept fiel krachend durch. "Internet - ääääh?", das sei damals eine weit verbreitete Haltung gewesen - auch in der Fernsehdirektion, die über das Budget für solche Projekte entschied, sagt Amlung. Und auch Deppendorf erinnert sich an die Mauer des Analogen: "Wir machen Fernsehen. Warum sich auf diese Spielwiese begeben? Das dachten und sagten die meisten."

Amlung fand einen Lösungsansatz: "Wir müssen einen Prototypen bauen", damit sich die Entscheider besser vorstellen konnten, wie die tagesschau im Internet aussehen könnte. "Wir wollten ganz vorne mit dabei sein, um diesen Wettbewerb nicht zu verlieren", erinnert sich Deppendorf an die damals noch frische Konkurrenzsituation zu den privaten Fernsehsendern. Amlung feilte am Konzept.

Ortstermin im Raucherbüro

Zweiter Anlauf, Ortstermin in der Programmiererhöhle: Fernsehdirektor Jürgen Kellermeier und Intendant Jobst Plog kamen, sahen und segneten den Prototypen ab. Der Funke der Begeisterung sprang über. "Wenn das Wirklichkeit wird, können wir die tagesschau auf der ganzen Welt zeigen", habe er seinen Vorgesetzten vorgeschwärmt, so Deppendorf.

Aber dafür gab es eigentlich kein Geld. Eigentlich. Das digitale Gedächtnis und damit die Nachhaltigkeit der Netzinhalte boten die rettende Chance: Die Sendungen der damals gut 40 Jahre alten tagesschau sollten ohnehin archiviert werden, aber auf herkömmlichen Datenträgern. Dafür gab es ein Budget - und jetzt auch "Nutznießer": die Internet-Pioniere, die auf diesem Umweg Online-Geschichte in Deutschland schreiben bzw. programmieren würden. Amlungs Vorschlag, das Sendungsarchiv zu digitalisieren, wurde angenommen.

Das erste tagesschau.de-Team heuerte jetzt weitere technologiebegeisterte Experten an. Die Firma Lava in der Hamburger Speicherstadt hatte für ein Fernsehmagazin eine Website gebaut. "Es gab ja kaum etwas damals", sagt der Webentwickler Matthias Oelmann. "Wir alle haben uns Fragen gestellt wie: Was ist eigentlich das Netz? Was gehört da rein?" Es war wirklich Neuland damals.

Der Browser Netscape hatte gerade erst farbigen Hintergrund eingeführt. "Nur mal so zur Einordnung", sagt Willem Froehling, der erste Webmaster der tagesschau: "Einige Redakteure wollten die Maus nicht benutzen. Sie waren an ihre Tastenkombinationen bei den Computeranwendungen gewöhnt."

Fast wie Videoübertragung per Telefonleitung

Fernsehsendungen kurz nach der Ausstrahlung im Internet zu zeigen - das gab es auf der ganzen Welt nur vereinzelt. "Es war wirklich eine ganz große Nummer damals", erinnert sich Oelmann. Technisch sei das eher wie Videotelefonie gewesen. Die Übertragung der Daten war sehr langsam: "14,4 Bit pro Sekunde Bandbreite mit dem Modem - und wer mit ISDN 64 Kilobit hatte, hat sich gut gefühlt", erklärt er. Heute sind 16,4 Megabit üblich.

Die Videodateien möglichst klein zu rechnen und beim Abrufen und Zeigen wieder groß, so weit seien die Rechner damals noch nicht gewesen. Das bedeutete: kleine ruckelnde Bildchen. "Die Sprecher zu zeigen, ging noch ohne Probleme." Aber wenn viel auf dem Video passierte, ruckelte es und manchmal gab es nur noch Rauschen und Ton.

Es war morgens um fünf, als die erste Sendung online geschaltet wurde - ein Probelauf mit einer Ausgabe vom 31. Juli 1996. "Ich habe mich gefreut, dass in den USA noch Leute wach waren und die tagesschau geschaut haben. Das sah man ja an den Logfiles", sagt Oelmann. Zwei Stunden später kam dann der Anruf: Das gesamte System war zusammengebrochen. So groß war der Ansturm. Mehr Speicherplatz auf dem Webserver musste möglichst schnell besorgt und installiert werden.

Aber ab dann konnten die späte Nachmittagsausgabe und die 20-Uhr-tagesschau etwa 30 Minuten nach der Sendung zum Abruf ins Netz gestellt werden. Das war tatsächlich eine sensationelle Neuheit - die nahezu Echtzeitkomprimierung von Videomaterial war durch die Kooperation mit der israelischen Firma VDOlive möglich.

Start per rotem Knopf - die Weltpremiere

Die "Wir müssen da rein"-Erkenntnis von ARD-aktuell Chefredakteur Deppendorf in Hamburg galt jetzt für das gesamte Erste. "ARD.de haben wir quasi über Nacht programmiert", sagt Oelmann, "das war alles sehr schnell und intensiv." Am 28. August 1996 drückte Jobst Plog, damals Intendant des NDR, während einer tagessthemen-Sendung symbolisch auf den roten Knopf - live ins Internet übertragen von der Elektronik-Messe CeBIT Home. Diese Live-Übertragung war eine Weltpremiere.

Video stand für den Fernsehsender natürlich an erster Stelle. Doch für den Auftritt im Netz waren weitere Inhalte mit Text, Fotos und Links notwendig. "Unser erstes Netzprojekt war die Landtagswahl in Hamburg 1997", sagt der erste Redakteur von tagesschau.de, Amlung. "Das Meiste wurde im Fernsehen erzählt, aber ein Ergebnisdienst, ein aktuelles Wahltool - das war ein echter Mehrwert im Netz." Erste Texte zu den Wahlen und anderen wichtigen Ereignissen - wie der Tod von Lady Di 1997 - schrieben Studenten und Studentinnen, einige sind heute Redakteur oder Redakteurin bei tagesschau.de.

Kopfschütteln auf höchster Ebene

Auch wenn Amlung, Deppendorf und ihr Team für mehr Eigenständigkeit und den Ausbau der Online-Kompetenz der ARD kämpften, 1998 lehnte die Fernsehprogrammkonferenz erneut ein entsprechendes Konzept ab. "Wir hätten die Redaktion gerne früher ausgebaut", erinnert sich Amlung, der 1998 zum deutsch-französischen Sender Arte wechselte. Ein anderer Fernsehmann übernahm daraufhin die Leitung des Projekts.

Jörg Sadrozinski

"Natürlich haben mich die Kollegen gefragt, warum ich das mache" - Jörg Sadrozinski, langjähriger Leiter von tagesschau.de.

"Natürlich haben mich die Kollegen gefragt, warum ich das mache", sagt Jörg Sadrozinski, der damals als Chef vom Dienst beim nachtmagazin im Einsatz war. Damals habe es noch die Haltung gegeben: "Na ja, dieses Internet wird schon wieder verschwinden." Aber auch Sadrozinski glaubte an das Potenzial, wechselte zwischen Schichten im Fernsehteam und zusätzlichen Arbeitsstunden mit dem Onlineteam.

Die Aufbruchstimmung, die Dynamik, der Spirit dieser Anfangsjahre steckte an. "Wir waren sehr idealistisch", sagt der Informatiker und ehemalige Systemadministrator Willem Froehling. "Ganz nach der Idee von Brechts Radiotheorie sahen wir die Möglichkeit: Jeder Empfänger kann auch Sender werden." Nicht nur in der Redaktion habe es Skeptiker gegeben, auch bei den Fernsehtechnikern, die ihre klassischen Prozesse beibehalten wollten. "Uns war sehr bewusst, für wen wir arbeiteten", beschreibt Fröhling den Respekt vor der tagesschau. "Die hohe Nachrichtenqualität durfte durch den Netzauftritt nicht beschädigt werden." Es sei großartig gewesen, mit einer so starken Marke ein Angebot entwickeln zu können, sagt auch sein ehemaliger Kollege Rasmussen.

Katastrophe - Motor der Entwicklung

Ab 1999 konnten die tagesschau-Onliner richtig loslegen. Die Zeit war reif. Die Einsicht "Internet ist mehr als Fernsehen, wir müssen eine eigene Redaktion gründen", setzte sich durch, beschreibt Ex-Chef Sadrozinski den nächsten Schritt. 5,5 Stellen für die Redaktion, Geld, Räume, Technik - das alles erlaubte den Ausbau der Website und alle paar Jahre einen Relaunch.

Die Skepsis blieb zunächst. "Arbeiten bei euch richtige Journalisten?“, fragten Fernsehkollegen. Die Redaktion erstellte inzwischen Dossiers und aktuelle Meldungen. Herzstück blieben die Sendungen und einzelne Beiträge daraus, erst später kamen die Hörfunkstücke als Audio und Text dazu. Heute arbeiten auch die FernsehkollegInnen fürs Netz.

Katastrophen sind leider gut fürs Nachrichtengeschäft. 2001 kam laut Sadrozinski der große Durchbruch für die Akzeptanz der Onliner. Die Zugriffszahlen auf die Website während und nach der 9/11-Attentate waren so hoch, dass die Server in die Knie gingen. "Ab da wurden wir ernst genommen, alle haben gesehen, dass Leute online Nachrichten wollen, trotz der zahlreichen Sondersendungen im Fernsehen," sagt Sadrozinski. Mehr Stellen für seine Redaktion und mehr Eigenständigkeit, immer in enger Kooperation mit der Fernsehredaktion, waren die Folge.

"Machen Sie tagesschau, ohne tagesschau zu sein"

"Seien Sie tagesschau, ohne tagesschau zu sein", dieser Appell des ehemaligen ARD-Vorsitzenden Fritz Pleitgen sei eine gute Maxime, sagt Sadrozinski. Das heißt? Rasmussen und sein Ex-Chef zählen auf: seriös informieren, kein Schnickschnack, keine Zirkusveranstaltung, neue Sachen ausprobieren, aber nach dem Prinzip "Wir sind die, die sauber informieren", keine Klickschinderei, Nachricht und Kommentar sauber getrennt. "Wir waren immer weniger kommentierend und ausschmückend", sagt der langjährige Redaktionsleiter, der seit 2011 die Deutsche Journalistenschule in München leitet. "Die Online-Konkurrenten haben immer gesagt: 'Ob’s stimmt, schauen wir bei Euch.'"