
SPD auf Chefsuche Nur einer kann verlieren
Stand: 26.09.2019 05:57 Uhr
Die SPD wirkt derzeit so, als ob man der erschöpften Partei ein Stück Traubenzucker gereicht hätte. Doch der Erkenntnisgewinn des Kandidaten-Castings ist überschaubar. Was heißt das für den vermeintlichen Favoriten?
Von Wenke Börnsen, tagesschau.de
Ralf Stegner ist gar nicht so miesepetrig. Christina und Michael sind kein Schlagerduo. Karl Lauterbach hat keine Angst vor Neuwahlen und Olaf Scholz hat auch in Hamburg kein Heimspiel. Die SPD sucht seit einigen Wochen eine neue Führung, doch der Erkenntnisgewinn des Castings ist bisher überschaubar. Dennoch wirkt die SPD derzeit so, als habe man der erschöpften Partei ein Stück Traubenzucker gereicht.
14 Kandidaten, ein potenzieller Kanzlerkandidat
Der neue Neuanfang der SPD hat viele Gesichter - einige kennt man, viele nicht. Unter den 14 Kandidaten auf der Bühne der Regionalkonferenzen ist jedoch nur ein potenzieller Kanzlerkandidat. So sieht es zumindest Olaf Scholz, und im Willy-Brandt-Haus gibt es genug Leute, die diese Einschätzung teilen.
Mit seiner Kandidatur geht Scholz volles Risiko. Er ist der einzige, der in diesem Auswahlprozess etwas zu verlieren hat. Die anderen können nur gewinnen: an Statur, an Profil und wenn's nicht klappt mit dem SPD-Vorsitz gehen sie zurück in die Fraktion, in die Landes- oder Kommunalpolitik oder in den Ruhestand.
Für Scholz aber hätte eine Nicht-Wahl Konsequenzen. Seine Position als Vizekanzler und Finanzminister in der GroKo dürfte dann erheblich geschwächt sein. Und das Rennen um das Kanzleramt wäre für ihn vermutlich beendet, bevor es begonnen hat. Schließlich wäre kaum glaubwürdig erklärbar, warum die Partei jemanden als Chef ablehnt, aber als Kanzlerkandidat haben will.
Scholz über Scholz: ein "truly" Sozialdemokrat
Bleibt die Frage, warum Scholz das Risiko eingeht. Erst wollte er nicht, dann doch. Weil andere sich verdrückt haben, sagt einer aus seinem Umfeld und erinnert an die vielen Absagen prominenter Sozialdemokraten. Der SPD-Vorsitz erschien als Ramschposten, den niemand will.
Man darf Scholz abnehmen, dass ihm als "echten truly Sozialdemokraten", als der er sich selbst bezeichnet, diese Häme nahe gegangen ist. Aus Verantwortung für die SPD habe er sich entschieden, doch zu kandidieren, sagt Scholz. Zusammen mit der Brandenburgerin Klara Geywitz bildet er das Team Geywitz/Scholz. Sie soll seine Schwächen ausgleichen, was so mäßig klappt, weil sie einfach zu ähnlich sind. Analytisch, wenig gefühlig - dafür gibt es höchstens höflichen Applaus. "Solide" nennen Wohlmeinende die bisherigen Auftritte des Duos.
Weil "Olaf Wahlen gewinnen kann"
Er sei für das Team Geywitz/Scholz, weil "Olaf Wahlen gewinnen kann", sagt ein SPD-Mitglied kürzlich beim Casting in Hamburg. Scholz holte 2011 in der Hansestadt die absolute Mehrheit für die SPD - aber die Partei konnte er nicht für sich gewinnen. Scholz ist keiner, der begeistert. Gerade mal 59,2 Prozent bekam er bei der Wahl zum Parteivize Ende 2017.
Nimmt man Stimmung und Applaus auf den Regionalkonferenzen zum Gradmesser, sieht es schlecht aus für das Duo Geywitz/Scholz. Das Format Castingshow mit streng getakteter Redezeit liegt vor allem Scholz nicht. Zumal ihn die Parteibasis immer wieder in den Rechtfertigungsmodus zwingt. Die jüngsten Klimabeschlüsse der Koalition, die er mitverhandelt hat, geben seinen Kritikern neue Angriffsfläche.
Kandidaten für den SPD-Vorsitz
Sechs gemischte Doppel sind noch im Rennen um den SPD-Parteivorsitz. Es sind bekannte Namen darunter, aber auch neue Gesichter.
Applaus für GroKo-Aussteiger und Agenda-Gegner
Das Duo Lauterbach und Nina Scheer trifft hingegen verlässlich den Nerv der GroKo-müden Parteimitglieder. Lauterbach war früher noch für die GroKo, jetzt will er sofort raus. Auch die Parteilinke Hilde Mattheis kann verlässlich mit Zustimmung rechnen, wenn sie Hartz IV abschaffen will.
Doch sollte man die Stimmung auf den Regionalkonferenzen auch nicht überbewerten. Die Veranstaltungen sind zwar immer gut besucht, aber am Ende stimmen die 426.000 SPD-Mitglieder ab - nur ein Bruchteil von ihnen wird sich auf einer der 23 Stationen selbst ein Bild von den sieben Bewerberduos gemacht haben. Auf dem Wahlzettel - so hoffen Scholz-Anhänger - könnte der Vizekanzler schlicht mit seiner Bekanntheit und Erfahrung punkten.
Esken/Nowabo - die Hoffnung der Parteilinken
Doch nicht nur auf der Bühne wird gerungen. Die Jusos um Kevin Kühnert wollen Scholz als Parteichef verhindern. In ihren Augen steht er für alles, was sie hinter sich lassen wollen: die Agenda-Politik, die GroKo.
Der Parteinachwuchs wirbt für das Duo Walter-Borjans/Esken, das auch vom mächtigen NRW-Landesverband unterstützt wird. Norbert Walter-Borjans, Rufname: Nowabo, kaufte als NRW-Finanzminister vor Jahren Steuer-CDs an und machte sich als Kämpfer gegen Steuerbetrug einen Namen. Er ist gerade 67 Jahre alt geworden und statt Ruheständler ist er nun die Hoffnung der Parteilinken. Zusammen mit der Bundestagsabgeordneten und Digitalpolitikerin Saskia Esken bewirbt er sich um den SPD-Chefposten. Auf den Regionalkonferenzen kommen sie gut an.
Das Duo Geywitz/Scholz hat die Unterstützung des Hamburger Landesverbands, auch in Rheinland-Pfalz, Hessen und im Saarland wird offenbar für sie geworben. Und die jüngste Verbalattacke auf Geywitz aus Brandenburg führte wohl eher zu einer Solidarisierung. Sie belegt aber auch, wie brüchig die vielbeschworene Solidarität nach dem Nahles-Schock bei der SPD ist.
Wer kommt in die Stichwahl?
Vermutlich wird keines der sieben Kandidaten-Duos im ersten Wahlgang auf die erforderlichen 50 Prozent plus X der Stimmen kommen. Erwartet wird, dass es Geywitz/Scholz in die zweite Runde schaffen. Wer aber gegen die beiden in der Stichwahl antritt, wagt man im Willy-Brandt-Haus nicht vorherzusagen. Esken/Walter-Borjans werden gute Chancen eingeräumt, vielleicht auch Köpping/Pistorius oder Kampmann/Roth. Spätestens dann dürfte auch die inhaltliche Diskussion schärfer werden, spätestens dann - so hoffen zumindest die Scholz-Anhänger - zeigt sich auch, wer genügend Erfahrung fürs Kanzleramt mitbrächte.
Die SPD muss sich mal wieder entscheiden, ob sie auch in den nächsten Jahren politisch gestalten will. Oder ob sie diesmal einen kompletten Neuanfang wählt und damit das Risiko eingeht, womöglich auf Jahre hinaus das Regieren anderen zu überlassen. Dann braucht sie auch keinen Kanzlerkandidaten. Aber mehr Traubenzucker.
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