Interview

Kinderschutzbund übt Kritik "Dadurch wird der Haushalt nicht gerettet"

Stand: 09.06.2010 01:31 Uhr

Als "skandalös" und "grausam" bezeichnet Kinderschutzbund-Präsident Hilgers den Plan der Bundesregierung, das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger zu streichen. Damit treffe man die Ärmsten der Armen, sagt Hilgers im Interview. Mit dem gesparten Betrag werde der Haushalt nicht gerettet.

tagesschau.de: Inwieweit spart die Bundesregierung Ihrer Meinung nach am falschen Ende? Inwieweit sind vor allem die Kinder die Leidtragenden?

Heinz Hilgers: Es sind vor allem die Kinder aus armen Familien die Leidtragenden, und dann vor allem die ganz kleinen Kinder, die noch nicht ein Jahr alt sind, die bei arbeitslosen Eltern leben, häufig bei arbeitslosen Alleinerziehenden. Das müssen Sie sich in der Praxis mal vorstellen: Da hat eine alleinerziehende Mutter, die gar nicht arbeiten kann, weil sie ein Baby hat und weil es in ihrer Region gar keine Kita für so kleine Kinder gibt, diese Mutter steht dann da mit einem Einkommen von knapp über 800 Euro, und davon streicht man ihr jetzt 300! Dann hat sie dann noch 500 Euro plus Miete. Das ist eine Kürzung von mehr als 30 Prozent, die einer der Ärmsten der Armen in unserem Land hinnehmen muss. Das halte ich für skandalös.

"Das ist alles abenteuerlich"

tagesschau.de: Arbeitsministerin von der Leyen argumentiert, dass Hartz-IV-Empfänger an anderer Stelle wieder bekommen, was ihnen durch die Streichung des Elterngeldes weggenommen wird…

Hilgers: Das ist falsch. Das frühere Erziehungsgeld als Vorläufer des Elterngeldes wurde nicht auf Hartz IV angerechnet, das ist der Unterschied. Und dieselbe alleinerziehende Mutter ist noch von weiteren Kürzungen betroffen: Es wird jetzt nicht mehr für sie in die Rentenversicherung eingezahlt. Sie wird später weniger oder keine Rente bekommen. Im Übrigen ist das ein Spartrick à la "rechte Tasche - linke Tasche". Das Geld fehlt jetzt in der Rentenversicherung. Und: Das Geld wird später auch den Städten und Gemeinden fehlen, die dann für diese Familien nach dem Sozialgesetzbuch aufkommen müssen, weil sie keine Rente bekommen. Das ist alles abenteuerlich.

"Ich befürchte Schlimmeres"

tagesschau.de: Welche Auswirkungen befürchten Sie, wenn es um die Bildungschancen von Kindern geht? Gerade von Kindern aus finanziell schlechter gestellten Familien?

Hilgers: Die Würfel fallen früh in unserem Land. Gerade in Deutschland wird sehr früh entschieden, wie es um die Bildungschancen von Kindern bestellt ist. Da zählt vor allem die Unterstützung der ganz Kleinen. Aber ich befürchte Schlimmeres. Ich befürchte, dass die Zahl der Krisenfamilien zunimmt, wo Kinder Gefahr laufen zu verwahrlosen. Wir wissen, dass der Hauptrisikofaktor für Verwahrlosung und Vernachlässigung die Armut ist. Die Armut von Kindern steigt an, und wir erleben bereits die Auswirkungen. Wenn sich jetzt die Lebensbedingungen derart verschärfen, dann gerät diese junge Familie weiter zusätzlich unter Druck.

Es gibt ganz viele arme Eltern, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmern und sich das Letzte vom Mund absparen, damit es ihren Kindern mal besser geht. Aber wenn Sie eine sozialwissenschaftliche Analyse der schweren Kinderschutzfälle machen und aller Krisenfamilien, dann werden Sie feststellen, dass die große Zahl solcher Familien in Armut lebt.

Dazu kommt ein weiterer Punkt: Das frühere Erziehungsgeld wurde 1986 eingeführt in Zusammenhang mit dem Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches. Das Bundesverfassungsgericht hat sich damals für diesen so genannten positiven Lebensschutz ausgesprochen, damit auch arme Mütter die Chance haben, ihre Kinder groß ziehen zu können, sich überhaupt für das Kind entscheiden zu können. Diesen positiven Lebensschutz jetzt anzugreifen - es ist mir völlig unverständlich, wie das eine christdemokratisch geführte Regierung machen kann.

"Eine unglaubliche Klientelpolitik"

tagesschau.de: Wer kritisiert, der sollte Alternativen parat haben. Welche Maßnahmen würden Sie stattdessen für sinnvoll halten?

Hilgers: Mit Sicherheit bin ich nicht dafür, dass Hotels mehrwertsteuerbefreit werden. Ich weiß nicht, was das alles soll. Es gibt ganz viele Punkte, da hat man den Eindruck, dass eine unglaubliche Klientel-Politik gemacht wird für Leute, denen es sowieso sehr gut geht. Im Übrigen: Als ehrenamtlicher Präsident des Kinderschutzbundes reise ich viel zu unseren Ortsverbänden. Ich habe nicht festgestellt, dass die Hotels durch die Umsatzsteuervergünstigung billiger geworden sind. 

tagesschau.de: Gespart werden soll immer bei den anderen, frei nach dem Motto „Brot für die Welt, Kuchen für mich“. Sieht gesellschaftliche Solidarität nicht anders aus? Muss man da nicht einfach auch mal in den sauren Apfel beißen?

Hilgers: Aber nicht die Ärmsten der Armen. Nicht die Babys in den armen Familien. Das geht zu weit. Wenn Sie sich anschauen, was da finanziell herum kommt, ist das ja der geringste Betrag. Dass die Bundesregierung sich das antut, wegen eines so geringen Betrages eine solche Grausamkeit gegenüber ganz kleinen Kindern zu begehen - da stelle ich mir die Frage, was da eigentlich die Antriebskraft ist. Warum macht man das? Damit wird der Haushalt nicht gerettet.

Die Fragen für tagesschau.de stellte Ute Welty.