Ein Mann mit schwarzer Mütze steht vor einem Mikro. Im Hintergrund tanzen Menschen in schwarzen Hosen.
Gastmusiker Harry Yeff zeigt in Leipzig, wie er die menschliche Stimme ausreizt. Bildrechte: Ida Zenna

Rezension Wenn Künstliche Intelligenz Ballett macht – "Fusion" an der Oper Leipzig

30. Mai 2023, 14:37 Uhr

An der Oper Leipzig wird künstliche Intelligenz zur künstlerischen: Ballettchef Mario Schröder hat den Beatboxer und Musiker Harry Yeff eingeladen. Als Reeps100 erkundet er die menschliche Stimme und setzte dabei auch künstliche Intelligenz. Gemeinsam haben sie das Stück "Fusion" entwickelt: eine Show voller mit besonderem Stimmeinsatz und klugen Gedanken. Unser Kritiker zeigt sich beeindruckt.

Der Leipziger Ballettchef Mario Schröder ist ein vielfach bewegter Mann. Er ist nicht nur am Ballett, sondern immer auch am Bühnengesamtkunstwerk interessiert. Ein Mann, der seine Choreografien gerne mit visionären, philosophischen Aspekten auflädt. Logisch, dass er da an einem "In-Thema" wie der KI, der künstlichen Intelligenz, nicht vorbeikommt. Weil er ein Teamplayer ist, tut er das nicht alleine.

Oper Leipzig: Ballett mit künstlicher Intelligenz

Bei seinem neuen Ballett "Fusion" setzt er zum einen auf die bewährte Mitarbeit des Bühnen- und Kostümbildners Paul Zoller, sowie den hauseigenen Lichtkünstler Michael Röger. Neu dabei sind zwei musikalische Gäste, die im wesentlichen auch die künstliche Intelligenz verantworten: Das ist der Engländer Harry Yeff. Ein Mann der Stimme und ihrer Erweiterung. Gestartet als junger Beatboxer, kann er das Repertoire seines menschlichen Organs mittels elektronischer Verfremdung enorm erweitern.

Er entwickelt mit dem Einsatz von musikalischer Software und eben auch künstlicher Intelligenz sehr beeindruckende Kompositionen. In Leipzig ist er nicht nur für den Soundtrack verantwortlich, sondern agiert auch als Live-Performer aus dem Orchestergraben, der sich in das Bühnengeschehen begibt. Dabei interagiert er mit Gadi Sassoon, einem musikalischen Bruder im menschlichen und künstlich intelligentem Geiste, der vorrangig mit seiner verfremdeten Violine arbeitet.

Tanz als Überwältigung der Sinne

Zu Beginn des Leipziger Tanzabends öffnet sich der eiserne Vorhang der Oper wie ein riesiges metallisches Maul, das den Blick freigibt auf eine dunkle, lichtdurchfahrene Ur-Landschaft. Im Dunkel glaubt man Strukturen, Formen, Körper zu erkennen. Man braucht Zeit, um dahinterzusteigen, was da eigentlich zu sehen ist: Ja, es sind menschliche Körper, am Boden und schwebend in der Luft.

Den bizarren Sound, der über allem schwebt, produziert Harry Yeff, der halbhoch im Orchestergraben, hinter zwei Mikrofonen agiert. Mit seiner Stimme, seinem Körper, seinen Händen produziert er auf geheimnisvolle Weise diese sphärische Musik. Zu der sich die Tänzerinnen und Tänzer als eine Art amphibisches Gewimmel am Boden, unter den schwebenden Kollegen in der Luft, bewegen. Später kommt noch das Urelement Wasser in einem hereinfahrenden kreisrunden Becken hinzu. Kennt man aus dem Friedrichstadtpalast. Ja, Mario Schröder und sein Team setzen auf große Show, mit absolutem technischen Perfektionismus und – das ist der Unterschied – inhaltlich intellektuellem Anspruch.

Szene aus dem Ballett "Fusion" an der Oper Leipzig
"Fusion" ist eine große Show mit absolutem technischen Perfektionismus. Bildrechte: Ida Zenna

Bühnenzauber zur Menschheitsgeschichte

Hier geht es um nichts weniger als die Menschheitsgeschichte: Wo kommen wir her? Wohin geht die Reise in der Zukunft? Das Stück ist in fünf Bilder unterteilt. Beginnend mit der "Genisis". Es folgen die Kapitel "Künstliche Intelligenz", "Restart", "Dekonstruktion" und schließlich die titelgebende "Fusion". In der die Tänzerinnen und Tänzer als non-binäre Doppelpacks, zu zweit aneinander geschnürt, in eigenartigen Körperformen, so etwas wie einen futuristischen Pas de Deux entwickeln. Zu einem, wohl von künstlicher Intelligenz entwickeltem rasanten Soundtrack, dem der tanzende Doppelmensch kaum noch folgen kann.

Was macht Mensch, was die künstliche Intelligenz?

Bleibt die Frage, inwieweit sich die künstliche Intelligenz in den Entstehungsprozess eingemischt hat. Sehen kann man das kaum. Am ehesten noch bei den eingespielten Videoinstallationen, die ein Teil des Bühnenbildes sind. Auch bei der Produktion der Musik ist offensichtlich KI mit im Spiel. Das könnte aber auch mit einem gewöhnlichen, noch Mensch gesteuertem Computer-Programm kreiert worden sein.

Tänzerisch gibt es Momente der scheinbaren Improvisation. Wenn in einer Szene sieben Tänzer auf der verdunkelten Bühne stehen und immer dann, wenn sie in einem Lichtkegel selber aufscheinen, sich für diesen Moment in abstrakte Bewegung versetzen. Oder wenn Harry Yeff sich zwischen das am Boden liegende Ensemble begibt und es mit seiner Stimme und dem Sound aus einem schwarzen Klangkasten in Bewegung versetzt. Das mag von seiner zufälligen Inspiration oder künstlicher Intelligenz gesteuert sein, kommt am Ende aber auf das gleiche heraus.

Szene aus dem Ballett "Fusion" an der Oper Leipzig
Wann tanzt hier Mensch, wann die KI? Bildrechte: Ida Zenna

Keine Angst vor KI

Hier agieren ganz klar Menschen, die sich eine Technologie zu eigen machen, um ihre Kunst zu produzieren, deren Grenzen ins Neuland verschieben. Der Dramaturg dieses Projekts, Thilo Reinhard, hat es mit einem Satz treffend auf den Punkt gebracht: "Wir geben der künstlichen Intelligenz die Chance, eine künstlerische zu werden." Und diese Chance wurde in Leipzig eindrucksvoll genutzt.

Informationen zu den Aufführungen

"Fusion"
Ballett von Mario Schröder, Livemusik von Harry Yeff - Reeps100

Oper Leipzig
Augustusplatz 12
04109 Leipzig

Choreografie: Mario Schröder
Co-Creative / Musik: Harry Yeff - Reeps100
Bühne, Kostüm: Paul Zoller
Dramaturgie Thilo Reinhardt
Licht Michael Röger
Musik: Gadi Sassoon
Besetzung: Leipziger Ballett, Survivor: Yun Kyeong Lee / Vincenzo Timpa

Termine:
2. Juni 2023, 19:30 Uhr
7. Juni 2023, 19:30 Uhr
30. Juni 2023, 19:30 Uhr
8. Juli 2023, 19 Uhr

Redaktionelle Bearbeitung: Hanna Romanowsky, tsa

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 29. Mai 2023 | 11:15 Uhr