Dienstags direkt | 13.06.2023 | 20-23 Uhr Spurensuche in Sachsen - 70 Jahre nach dem Volksaufstand
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11. Juni 2023, 20:08 Uhr
Es gibt immer weniger Menschen, die als Zeitzeugen über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR berichten können. Die Kinder von damals sind heute Großeltern. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich am Generalstreik beteiligten, leben nicht mehr. Die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel wachzuhalten ist wichtig, sagen diejenigen, die erlebt haben, wie der SED-Staat vor 70 Jahren gegen das Aufbegehren seiner Bürger vorging. Deshalb haben wir auch über Erinnerungskultur gesprochen.
Gäste der Sendung:
Wenn die Jugend die Vergangenheit nicht kennt, kann sich Geschichte wiederholen.
- Regine Möbius | Schriftstellerin, Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates, Vorsitzende AK gesellschaftlicher Gruppen, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Die Revolte [...] am 17. Juni 1953 war das erste Aufbegehren in Osteuropa gegen das kommunistische System.
Ich entnehme den [...] Akten des Ratsarchivs, dass es [...] sich nicht allein um einen Arbeiteraufstand [... ] sondern um einen Volksaufstand gegen die Unfreiheit handelte.
Interviewpartner:
- Sönke Neitzel | Historiker
- Kathrin Quill | Lehrerin
- Titus Müller | Schriftsteller
- Sabine Michel | Regisseurin, Autorin
Militär gegen das Volk - in der Geschichte nicht ungewöhnlich
Wenn ein System befürchtet, die Macht zu verlieren, setzt es auch militärische Gewalt gegen seine Bürgerinnen und Bürger ein. Der Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel kennt dafür zahlreiche Beispiele. Vor allem in der russischen Geschichte sei das häufig so gewesen, sagt Neitzel im MDR SACHSEN-Interview. Der Experte sieht auch Parallelen zwischen 1953 und anderen Momenten im Kalten Krieg, wie der Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn 1956, dem Aufmarsch russischer Truppen im Prager Frühling 1968 oder auch dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989. Dass bei der friedlichen Revolution in Deutschland im selben Jahr kein Militär zum Einsatz kam, sei ein Glücksfall, sagt der Historiker.
Geschichtsverständnis hilft, die Zukunft zu gestalten
Zeitzeugenberichte machen historische Ereignisse anders erlebbar, sagt die Görlitzer Geschichtslehrerin Kathrin Quill. Sie organisiert für die Schülerinnen und Schüler der Oberschule Innenstadt Görlitz, an der sie unterrichtet, Begegnungen mit Menschen, die den 17. Juni 1953 in der Stadt noch selbst erlebt haben. Meist geschieht das am Rande der jährlichen Gedenkveranstaltung. Dass die Kinder die Gelegenheit auch nutzen, um die Zeitzeugen generell über das Leben in der DDR auszufragen, zeigt der Lehrerin, dass junge Menschen neugierig sind, zu erfahren, was die Generationen ihrer Eltern und Großeltern erlebt haben. In den Familien werde das oft nicht thematisiert. Leider finde sich auch im Unterricht kaum Raum dafür. In den Lehrbüchern schrumpfe das Informationsangebot von Auflage zu Auflage, sagt Kathrin Quill. Deshalb sei es wichtig, dass Lehrkräfte die Themen auch in anderer Form aufgreifen, z.B. über Projekte.
Historische Fakten und Schicksale verwoben in einem Roman
Der in Leipzig geborene Schriftsteller Titus Müller wühlt sich für seine historischen Romane durch Archive und Dokumentensammlungen – zuletzt für seine Trilogie über eine Spionin im Kalten Krieg. Alle drei Bände befinden sich derzeit in der Bestsellerliste des Spiegel.
Bereits 2017 erschien sein Roman "Der Tag X", in dem er die Ereignisse des 17. Juni 1953 aufgreift. Die Frauen und Männer, deren Schicksal im Buch lebendig wird, haben reale Vorbilder. Müller, der auch Geschichte studiert hat, legt Wert darauf, dass man beim Lesen nebenbei historische Zusammenhänge versteht. Deshalb fügt er seinen Romanen stets einen Anhang bei, in dem der historische Kern der Handlung erklärt ist. Die fiktionale Verarbeitung führt seiner Ansicht nach dazu, dass ein breiterer Kreis von Menschen in die Materie einsteigt. In seinem Roman gibt es neben männlichen auch zwei weibliche Hauptfiguren. In der Geschichtsschreibung ist deren Schicksal häufig unterrepräsentiert, sagt der Autor.
Der 17. Juni - auch ein Aufstand der Frauen
Dem stimmt die Filmemacherin Sabine Michel ohne Einschränkung zu. In ihren Filmen geht es meist um das Schicksal von Frauen. Durch Zufall fielen ihr Fotos vom 17. Juni in Halle/Saale in die Hände. Auf ihnen war zu erkennen, dass unter den Demonstrierenden viele Frauen waren. In Zeitzeugenportalen und Geschichtsbüchern fand sie allerdings wenig darüber.
Sie begab sich auf die Suche nach weiblichen Schicksalen. Entstanden ist eine 45-minütige Dokumentation, die exemplarisch Geschichten von Frauen aus Halle an der Saale, Rathenow und Ost-Berlin erzählt. Viele der Frauen waren für ihren Mut bestraft worden und landeten im Gefängnis. Michel sieht in der brutalen Niederschlagung des Aufstands 1953 einen Grund dafür, warum bis zum Mauerfall mehr als drei Jahrzehnte vergingen. Wenn man sich die Ereignisse von damals vor Augen führt, ergäbe sich daraus auch ein größeres Verständnis für die Geschichte der DDR insgesamt, sagt sie. Der Film "Aufstand der Frauen" ist ab dem 12.06.2023 in der ARD-Mediathek abrufbar.
Redaktion & Moderation:
Leitung: Ines Meinhardt