Seniorin im Altenheim
Gelebtes Leben und trotzdem Wünsche für die Zukunft. In vielen Alten- und Pflegheimen sitzen alte und weise Menschen, die der Welt etwas zu sagen haben. Irmgard Baumann hat als Mädchen den Krieg "in all' seinen Facetten erlebt". Heute wünscht sie sich "Weltfrieden und ein sofortiges Ende aller Kriege". Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Jahreswechsel Party im Altenheim: Was Seniorinnen und Senioren für das neue Jahr hoffen und wünschen

30. Dezember 2023, 05:00 Uhr

Weit weg von der Bildfläche und der öffentlichen Wahrnehmung spielt das Leben in den Alten- und Pflegeheimen. Wie geht es den Bewohnerinnen und Bewohnern? Wie feiern sie? Mit welchen Wünschen und Hoffnungen gehen sie in das neue Jahr 2024? MDR SACHSEN hat in Dresden nachgefragt. Vorab: Weltfrieden und Gesundheit sind die größten Wünsche. Eine Reportage über die Stimmung zum Jahreswechsel in zwei Altenheimen in Dresden.

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Christine Schmidt hat sich in Schale geworfen. Auf ihrem makellosen schwarzen Rolli strahlen weiße Perlen ebenmäßig in den Tag. "Das mache ich immer, wenn Besuch kommt", erklärt sie mit wachem Blick aus einem fast faltenfreien Gesicht. "Alles Natur", flachst die 79-Jährige. "An meine Haut kommen keine Cremes und kein Make-up. Wahre Schönheit kommt von innen." Schmidt lebt seit zwei Jahren im Pflege- und Seniorenheim "Clara Zetkin" des Deutschen Roten Kreuzes in der Fetscherstraße in Dresden. Nach einem Krankenhausaufenthalt gab es keinen Weg zurück in die eigene Wohnung - es klappte nicht mehr mit dem Laufen. "Anfangs war es schwer", erinnert sie sich. "Jetzt fühle ich mich hier sehr wohl – das sage ich jetzt völlig ohne Schleimspur."

Vorglühen im Flur

Die gebürtige Dresdnerin gehört zu den direkten, pragmatischen Menschen, die nur eine Richtung kennen. Die nach vorn sehen auch wenn das Leben bremst. Natürliche feiere sie Silvester, das ändere sie jetzt auch nicht hier im Altenheim. "Wir treffen uns abends im Kaffeestübchen", erklärt sie. Mittlerweile habe sie schon viele Menschen im Heim kennengelernt. Es sei ein bisschen wie im Hotel. "Ich muss nichts machen und bekomme etwas zu Essen und zu Trinken."

Seniorin im Altenheim
Christine Schmidt möchte unbedingt 100 Jahre alt werden und freut sich schon auf die Silvesterparty im "Stübchen". Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Alles soll so bleiben, wie es ist und ich möchte hundert Jahre alt werden.

Christine Schmidt

Pfleger Stefan muss lachen: "Der Eierlikör steht schon bereit". Christine Schmidt flachst: "Vielleicht betrinken wir uns auch schon vorher. Doch da reichen die paar kleinen Fläschchen nicht." Die ältere Dame ruckelt fast unmerklich auf ihrem Stuhl. Neben ihr steht ihr Bett, an der Wand hängen Fotos, die Tür zum Flur steht auf. Dann senkt sie die Stimme ein wenig: "Abends trinke ich immer gern mal einen Kräuter."

ein Mann im Altenheim
"Wir machen es uns hier gemütlich": Pfleger Stefan betreut die Damen und Herren zum Silvesterabend im Alten- und Pflegeheim des Deutschen Roten Kreuzes. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

"Ich möchte hundert Jahre werden!"

Doch jetzt im Ernst: Was wünschen Sie sich für 2024? "Alles soll so bleiben, wie es ist", erklärt die Dresdnerin – ohne nur eine Millisekunde zu überlegen. "Alles soll so bleiben und ich möchte hundert Jahre alt werden". 100 Jahre? "Ja!" Die Dresdnerin scheint fest empört ob der Nachfrage. "Ja, 100 Jahre, das habe ich mir fest vorgenommen. Das ist mein Wille – und ich habe einen starken Willen."

Im Zeichen der Poesie

Im Zimmer auf der anderen Seite des Flures kramt der feinsinnige Harald Linstädt in der Schublade seines Schreibtisches und zieht einen Gedichtband hervor. Er verkörpert scheinbar das Gegenteil von Frau Schmidt. Sensitiv in den Facetten seines Seins gehört weniger das pragmatische Vorpreschen als die fühlende Reflexion zu seinem Element: Das Spüren, Sehnen, das Glück, der Schmerz, die Gegenwart, die Vergangenheit und alles dazwischen.

"Eisvogelwarten" heißt der Lyrikband von harald Linstädt. "Aus den Flausch der Obstbaumblüten einen Schneemann rollern. Dem Flügelkonzert der Augenfalter lauschen. Dahinschweben am Samenschirmchen der Sommerlinde. Oder dich einfach nur Huckepack nehmen!" Linstädts Gedicht webt sich poetisch in den Dresdner Winternachmittag. Es ist keine Einzeltat. Der 1953 im Karl-Marx-Stadt geborene Harald Linstädt hat bisher 44 Bücher veröffentlicht, darunter 14 Sammelbände. Einige Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Schon zu DDR-Zeiten veröffentlichte der gelernte Pilot. Noch heute liest er Kindern aus seinen Büchern vor.

ein Mann hält ein Buch
"Frieden und viel mehr Gerechtigkeit": Der Schriftsteller Harald Linstädt hofft gesellschaftlich und privat auf mehr Licht am Ende des Tunnels. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Verlorene Träume

"Ich bin ausgebildeter Jagdflieger", erklärt Harald Linstädt, der ein bisschen wirkt, wie der berühmte Schriftsteller Harry Rowohlt. "Weil ich psychisch labil war, musste ich den Beruf jedoch leider aufgeben." Später habe eine Augenoperation auch die Umschulung zum Hubschrauberpiloten verhindert. Dann sei seine Ehe zerbrochen. Plötzlich formt sich eine glaskugelrunde Träne im rechten Auge Linstädts und sucht sich ungefragt ihren Weg über die Wange des 70-Jährigen. "Entschuldigen Sie", erklärt er. Seine Trauer ist spürbar. Wie sehr viele ältere Menschen leidet Linstädt an Depressionen. Vielleicht sind kreative Zweifler besonders gefährdet, wer weiß das schon. Braucht Kunst den Schmerz, um zu entstehen? Große Fragen, die bis ins Altenheim bestehen.

Bücher
Das Oevre des Literaten zählt mehr als 44 Bücher für Erwachsen und Kinder - darunter auch Lyrik und Sammelbände. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Licht am Ende des Tunnels

Doch Linstädt hat nicht nur Tränen, er strahlt auch: Wenn er vom Schreiben redet, seinen Geschichten für Kinder und Erwachsene, seiner Arbeit im Schullandheim und dem Jetzt: "Zurzeit geht es mir richtig gut", erzählt der Schriftsteller. "Ich bin sehr froh, dass das mit einem Platz in diesem Heim geklappt hat. Natürlich feiere auch er den Jahreswechsel. "Wir treffen uns Silvesterabend im Stübchen", weiß er um die angekündigte Party im gegenüberliegenden Trakt, zu der auch Christine Schmidt aufbrechen will. Was wünschen Sie sich für das neue Jahr 2024? Auch Linstädt muss nicht lange überlegen. "Ich wünsche mir Frieden und viel mehr Gerechtigkeit", erklärt er unumwunden. "Persönlich wünsche ich mir, dass das Licht am Ende des Tunnels, was endlich wieder da ist, noch ein bisschen heller wird." Er wünsche sich wieder mehr Inspiration und Kraft für das Schreiben. Dann senkt er seine Stimme und flüstert fast: "Und ich hätte gern wieder eine Freundin."

ein offenes Buch
"Ich kann so herrlich schnurren": Katzen-Content gibt es auch analog. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Alles ist anders

Im Altenzentrum "Schwanenhaus" der Diakonissenanstalt in der Holzhofgasse in der Dresdner Neustadt empfängt Irmgard Baumann nur eine Stunde später Besuch von ihrer Tochter Ulrike. Diese hat sich Weihnachten und Silvester frei genommen, um bei ihrer Mutter zu sein. Erst seit kurzer Zeit ist Irmgard Baumann im Altenzentrum. Eigentlich wollte die 92-Jährige niemals in ein Heim. "Hätte mir das jemand früher gesagt, hätte ich ihn für verrückt erklärt", erzählt sie. "Ich wollte eigentlich immer zu Hause bleiben und einfach tot umfallen. Das hat jetzt nicht so geklappt." Irmgard Baumann muss lachen. Natürlich sei sie total dankbar, dieses Zimmer bekommen zu haben, über die Hilfe aller, die sich um sie bemühen. "Ich danke meiner Tochter und allen anderen."

Seniorin im Altenheim
Irmgard Baumann stammt aus Stettin und bezeichnet sich als Pommernmädel. Heute ist sie 92 Jahre. Sie wünscht sich Weltfrieden und gegenseitigen Respekt. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Die Tücken der Teppichfalten

Weil sie über eine Teppichfalte stolperte und unglücklich über die Sessellehne fiel, zerbrach ihr Oberschenkelknochen auf ziemlich komplizierte Art und Weise. "Meine Mutter ist ein Stehaufmännchen", erklärt Ulrike Baumann. "Das sagen hier alle und ich schließe mich dieser Meinung voller Respekt an." Irmgard Baumann winkt ab. Sie stammt ursprünglich aus Stettin: "Ich bin ein Pommernmädel. Ich habe den Krieg in allen Facetten persönlich erlebt". Erinnern kann sie sich an eine Diakonisse, die ihr damals den Rat gab: "Was man will, das wird." Nach dem Krieg sei sie Anfang der 50iger Jahre an die Humboldt-Uni nach Berlin gegangen und habe Psychologie studiert – keine Selbstverständlichkeit für eine Frau damals.

Weltfrieden und Respekt

Welche Wünsche bleiben für 2024? "Ich wünsche mir Weltfrieden. Ich wünsche mir, dass alle Kriege beendet werden und ich wünsche mir, dass sich die Menschen mit Respekt begegnen", erklärt die 92-Jährige. "Persönlich wünsche ich mir Gesundheit und ja – natürlich, dass ich nicht so oft ins Krankenhaus muss wie dieses Jahr."

Ich wünsche mir Weltfrieden. Ich wünsche mir, dass alle Kriege beendet werden und ich wünsche mir, dass sich die Menschen mit Respekt begegnen.

Irmgard Baumann

Keine Wunschträume, sondern eine schöne Normalität

Eine Etage über Irmgard Baumann wohnt Dr. Gisela Kandler. Die Seniorinnen sind sich ziemlich ähnlich. Beide um die 90 Jahre alt (Gisela Kandler ist 89 Jahre) waren sie als Frauen nach dem Krieg ihrer Zeit voraus. Kandler studierte als eine der wenigen jungen Frauen Medizin, arbeitete später am Diakonissenkrankenhaus als Ärztin und Chirurgin.

Ich wünsche mir, dass alles so bleibt, wie es ist.

Dr. Gisela Kandler

Senioren im Altenheim
Gisela Kandler hat - für Frauen damals noch unüblich - 1953 begonnen, Medizin zu studieren. Später arbeitete sie als Chirurgin im Diakonissenkrankenhaus Dresden. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Auch Gisela Kandler wollte überall sein – nur nicht im Altenheim. "Plötzlich ging alles ganz schnell", erzählt die charismatische Seniorin. "Alles brach plötzlich zusammen: Der Verlust, das Alleinsein." Nach einem schweren Anfang sei ihr Zimmer jetzt ihr Zuhause geworden. "Ich wünsche mir, dass alles so bleibt, wie es ist", erklärt die ehemalige Ärztin. "Ich habe keine Wunschträume. Ich wünsche mir eine schöne Normalität und wieder Lieder schreiben und komponieren zu können. Das hat mir immer viel Freude bereitet."

MDR (kt)

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