25. WDR Europaforum 2023 | Am Katzentisch der Weltpolitik? Europas Rolle nach der "Zeitenwende" | Teil 1

WDR Europaforum Teil 1 von 2 06.06.2023 02:45:31 Std. Verfügbar bis 06.06.2025 WDR Von Ferdos Forudastan

Was kommt nach der "Zeitenwende": Scholz und von der Leyen beim Europaforum des WDR

Stand: 06.06.2023, 17:04 Uhr

Beim 25. Internationalen WDR Europaforum ging es in Berlin um die Frage, wie die EU auf die Krise der internationalen Beziehungen reagieren sollte. Dabei waren auch Bundeskanzler Scholz und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen.

Der russische Überfall auf die Ukraine gilt als Zeitenwende. Was bedeutet das für Europa? Brauchen wir eine eigene Armee? In welcher Phase befindet sich der Ukraine-Krieg? Welche Rolle hat dabei Europa? Und: Worauf kann Europa stolz sein?

Unter dem Motto: "Am Katzentisch der Weltpolitik? Europas Rolle nach der 'Zeitenwende'" setzten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Europaforums heute damit auseinander, wie Europa die aktuelle geopolitische Bewährungsprobe meistert, ohne dabei andere Großkrisen – Erderhitzung, Armut oder Menschenrechtsverletzungen anderswo auf der Welt – aus dem Auge zu verlieren.

Zerstörter Staudamm laut Scholz "neue Dimension" des Ukraine-Kriegs

Im Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ging es um den Krieg gegen die Ukraine und den zerstörten Staudamm bei Cherson. Scholz sieht in der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine "neue Dimension" des Ukraine-Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte Scholz. Russland betreibe eine "Kriegsführung, die immer auch zivile Ziele - Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen, Infrastrukturen - angegriffen hat, was mit einer militärischen Kriegsführung ja erst mal gar nicht verbunden wäre".

"Grenzen verschiebt man nicht mit Gewalt"

Scholz erklärte auch den von ihm geprägten Begriff der Zeitenwende. So habe er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bezeichnet. Denn der sei ein Bruch mit einer Tradition gewesen, "die wir schon sehr, sehr lange glaubten, gesichert zu haben in Europa: dass man nämlich nicht mit Gewalt Grenzen verschiebt." Weiter erklärte Scholz: "Wo würden wir denn enden, wenn jeder im Geschichtsbuch rumblättert und guckt, wo früher mal Grenzen waren und daraus dann Ansprüche auf seine Nachbarn ableitet und Krieg beginnt, um das durchzusetzen."

Wächst Europa in Krisen?

Europa habe gelernt, dass es Krisen meistern kann, wenn alle zusammenstehen, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Interview beim WDR Europaforum. Dass Europa in Krisen wächst, sei trotzdem kein Automatismus. "Dazu gehört schon harte Arbeit." Ihre eigene Aufgabe sei es dabei, sehr eng mit den Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten, damit "das Vertrauen wächst, dass wir gemeinsam stärker sind." Es sei sehr viel Vertrauen gewachsen während der Pandemie. Dieser Prozess müsse aber weitergehen.  

Brauchen wir eine europäische Armee?

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sprach sich auf dem WDR Europaforum auch für eine eigenständige gemeinsame europäische Armee aus. Die müsse über eine längst stattfindende Zusammenarbeit der nationalen Armeen weit hinausgehen. Dafür brauche es noch viele Diskussionen, aber für die Entwicklung der militärischen Fähigkeiten Europas wäre es von großer Bedeutung. "Die NATO ist nicht überall", sagte die frühere deutsche Verteidigungsministerin.

Mehr Fairness an den EU-Außengrenzen

Von der leyen beim Europaforum.

Ursula von der Leyen warb auch für die EU-Asylreform, über die am Donnerstag die Innenminister der Mitgliedsstaaten entscheiden. "An unseren Außengrenzen müssen alle gleich und fair behandelt werden", sagte die EU-Kommissionspräsidentin. Die Reform sorge für ein schnelles und faires "Grenzmanagement" und dafür, dass Geflüchtete innerhalb der EU fair verteilt werden. Gleichzeitig sei es wichtig, legale Zugangswege zur EU zu schaffen.

Wie geschlossen und wie stark ist Europa?

Zu Eröffnung der Diskussionsveranstaltung sagte WDR-Intendant Tom Buhrow: "Es gelingt Europa erstaunlich gut, die Zeitenwende zu meistern. Ich glaube, es war das Kalkül der russischen Führung, dass wir uns auseinanderdividieren lassen würden. Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen."

Außerdem betonte Buhrow die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Medien für den Austausch in Europa. "Es ist wichtig, dass wir in die Tiefe gehen, statt die Konflikte nur kurz zu thematisieren", sagte er. Das sei besonders wichtig vor dem Hintergrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Bundespräsident Steinmeier: "Europa ist nach wie vor ein Sehnsuchtsort"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Videobotschaft: Das WDR Europaforum sei eine gute Gelegenheit, sich bewusst zu machen, "wo Europa gerade steht". In Anlehnung an den britischen Historiker Timothy Garton Ash erinnerte er an die für Deutschland und Europa guten Jahre der "Nachmauerzeit" nach 1989.

Doch der "30-jährige Frieden" sei durch den russischen Angriff auf die Ukraine vorüber. "Der 24. Februar 2022 markiert einen Epochenbruch", sagte der Bundespräsident. "Das ist ein Angriff auf alle Lehren, die wir aus zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg gezogen haben." Gleichzeitig sei Europa aber durch die Unterstützung der Ukraine bei ihrem Freiheitskampf zusammengewachsen.

Außerdem fragte Steinmeier: "Sitzen wir wirklich am Katzentisch der Weltpolitik?" Die Antwort liege auch in unserer Hand. "Ich finde, wir haben gute Gründe, selbstbewusst zu sein – selbstbewusst, aber nicht überheblich." Steinmeier zählte unter anderem auf, Europa stehe für Vielfalt, den weltgrößten Binnenmarkt, Forschung und Innovation, Sicherheit und Stabilität, Menschenrechte und Demokratie. Europa sei daher nach wie vor für viele ein Sehnsuchtsort.

Angriffe von außen und von innen

Thema beim Europaforum war auch, ob es der EU gelingt, die Prinzipien von liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen Angriffe von außen und von innen zu verteidigen.

Beim Europaforum waren auch dabei: die Staatsministerin für Europa und Klima Anna Lührmann, der Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments Othmar Karas, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Aydan Özoğuz, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang und die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof Juliane Kokott.

Verleihung des CIVIS Medienpreis am Abend

Ebenfalls in der Hauptstadt wird am Dienstagabend der CIVIS Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt verliehen. Die ARD zeichnet damit herausragende Produktionen für Fernsehen, Radio, Internet und Kino aus. Insgesamt 24 Beiträge sind für den begehrten europäischen Preis nominiert - in insgesamt fünf Kategorien. Sie setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit hochaktuellen Themen wie dem Krieg in der Ukraine, Flucht, Migration und Rassismus auseinander - aber auch ganz allgemein mit Herkunft, Heimat und Identität.

Insgesamt wurden für den CIVIS Medienpreis Filme, Audios und digitale Formate aus 22 EU-Staaten und der Schweiz eingereicht. Die beste Produktion erhält heute den mit 15.000 Euro dotierten CIVIS TOP AWARD. Außerdem wird die WDR-Journalistin Isabel Schayani zusätzlich mit einem Video Award ausgezeichnet - für ihre langjährige Berichterstattung zum Thema Flucht und Asyl.

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