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Russische Kriegsdienstverweigerer in Mittelhessen

Mann

Zehntausende Russen sind aus ihrer Heimat geflohen, um nicht in der Ukraine kämpfen zu müssen. Doch nur wenige Kriegsdienstverweigerer und Regime-Gegner schaffen es nach Deutschland, um hier Asyl zu beantragen - wie Maxim Nekulcha. Er lebt jetzt in Gießen.

Im letzten Jahr bricht die Welt von Maxim Nekulcha aus St. Petersburg gleich zwei Mal zusammen: Zuerst im Februar mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Und dann noch einmal im November. Da bekommt der 28-Jährige einen Brief, in dem steht: Er solle sich zum Militärdienst melden.

Nekulcha, der auch vorher schon gegen das Putin-Regime protestiert hat, weiß sofort: Niemals würde er in diesen Krieg ziehen, der in seinen Augen Unrecht ist.

Tausende Kriegsdienstverweigerer ins Ausland geflohen

Im Rahmen der Teilmobilmachung im vergangenen Herbst wurden hunderttausende Russen zum Militärdienst einberufen. Zehntausende flohen danach ins Ausland, die meisten in russische Anrainerstaaten wie Kasachstan oder Georgien.

Viele wollen aber auch nach Deutschland. Denn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits im September angekündigt, dass er diejenigen, die nicht im Krieg gegen die Ukraine kämpfen wollen, in Deutschland aufnehmen wolle. In der Europäischen Union sehen das längst nicht alle Länder so, etwa die baltischen Staaten.

Wie viele russische Kriegsdienstverweigerer inzwischen in Hessen leben, kann derzeit niemand sagen. Aber: Die Zahl der Asylanträge von russischen Staatsbürgern hat laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) insgesamt zugenommen.

Waren es in Hessen im Jahr 2022 insgesamt noch knapp 260 Anträge, waren es allein bis Ende April dieses Jahres schon über 200.

Kaum Fluchtwege: weder raus noch rein

Nekulcha versucht in Russland zunächst Einspruch gegen die Einberufung einzulegen - erfolglos. Der IT-Ingenieur bekommt weitere Befehle per Post. Innerlich bereitet er sich schon darauf vor, möglicherweise verhaftet zu werden.

Er guckt sich YouTube-Videos über Gefängnisaufenthalte an. Schließlich entscheidet auch er sich für die Flucht - auch er will nach Deutschland.

russisches Dokomument mit Stempeln

Das Problem: Wie soll er dort hinkommen? Es gibt derzeit kaum Fluchtwege - weder raus aus Russland noch rein nach Deutschland. Wie viele andere plant er zunächst, illegal zu Fuß über die Grenze in ein Nachbarland zu fliehen und von dort aus irgendwie weiterzukommen.

Offenbacher Verein: hunderte Anfragen

Rudi Friedrich vom Offenbacher Verein Connection e.V. setzt sich seit Jahren für Kriegsdienstverweigerer ein, die in ihren Heimatländern verfolgt werden. Er meint: Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, das gelte auch im Fall eines Kriegs.

Auch in der Ukraine und Belarus gebe es derzeit Kriegsdienstverweigerer, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht an den Kämpfen beteiligen wollen, erklärt Friedrich.

Auch die Motive der Kriegsdienstverweigerer aus Russland seien unterschiedlich: Es seien Regierungskritiker darunter, aber auch Menschen, die aus Gewissensgründen nicht in den Krieg wollten oder etwa, weil sie in der Ukraine Verwandte hätten.

Wie viele Russen aus diesem Grund nach Deutschland geflohen sind, kann auch Friedrich nicht sagen. Der Verein geht aber davon aus, dass mittlerweile zwar 150.000 militärdienstpflichtige Russen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren ins Ausland geflohen sind, es aber nur wenige von ihnen noch Westeuropa geschafft haben.

"Wir haben in den letzten Monaten mehrere hundert Anfragen von Betroffenen oder ihren Angehörigen bekommen", berichtet Friedrich. Der Verein könne Menschen allerdings nicht konkret bei der Aus- und Einreise helfen. "Aber wir versuchen, Informationen bereitzustellen und Kontakte zu vermitteln."

"Es muss dringend Änderungen bei der Visa-Regelung geben"

Das Schwierigste sei derzeit tatsächlich der Weg an sich, berichtet Friedrich. "Selbst wenn es jemand zum Beispiel nach Kasachstan geschafft hat, kann er dort derzeit kein Visum für Deutschland beantragen und legal einreisen."

Wer es über den Landweg versuche, riskiere, in einem EU-Land registriert zu werden, das Kriegsverweigerung nicht als Asylgrund anerkennt und werde im Rahmen der Dublin-Regelungen möglicherweise zurückgeschickt.

Friedrich fordert: "Es muss dringend Änderungen bei der Visa-Regelung geben, damit für die Verweigerer die Grenzen offen sind und sie Schutz bekommen können."

Unter Vorwand nach Deutschland

Nekulcha hat schließlich Glück: Statt über den Landweg, kann er im November unter einem Vorwand per Flugzeug nach Moldau reisen. Vor den Behörden begründet er die Reise damit, dass seine Großmutter dort begraben liegt.

Ein Visum für Deutschland bekommt er aber auch dort nicht. Wieder nur unter einem Vorwand schafft er es schließlich, als Tourist einen Flug nach Serbien zu buchen, mit Transit in Frankfurt.

Am Frankfurter Flughafen angekommen, steigt er dann nicht in den Anschlussflieger, sondern geht einfach zur Passkontrolle. Kurz drauf beantragt er Asyl.

Nur 55 positive Bescheide deutschlandweit

Ob Asylanträge von russischen Kriegsdienstverweigerern angenommen werden, ist laut BAMF eine Einzelfallentscheidung. Dabei finde auch ein Sicherheitsabgleichverfahren statt. Und es werde geprüft, ob Gründe vorliegen, den Antrag abzulehnen, etwa weil jemand an Kriegsverbrechen beteiligt war. Man habe die Entscheidungspraxis nach Kriegsbeginn angepasst, so das BAMF.

Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab allerdings gerade, dass bisher in Deutschland kaum Anträge von russischen Kriegsdienstverweigerern angenommen wurden. Von inzwischen fast 2.500 Anträgen seien deutschlandweit bisher nur 55 positiv bewertet worden.

Die meisten Verfahren laufen demnach noch, 88 Anträge wurden ablehnt. In den verbleibenden 671 Fällen sei es zu einer "formellen Verfahrenserledigung" gekommen, so das Bundesinnenministerium. So bezeichne das Ministerium "Entscheidungen im Dublin-Verfahren" oder die "Rücknahme des Asylantrags".

"Wir gelten jetzt als Hochverräter"

Auch im Fall von Maxim Nekulcha hat das BAMF bisher noch keine Entscheidung getroffen. Nach Aufenthalten in verschiedenen Sammelunterkünften für Flüchtlinge lebt er inzwischen in einer Wohngemeinschaft in Gießen.

In Mittelhessen hat er außerdem Kontakt gefunden zu anderen Regierungskritikern aus Russland, etwa zu Ekaterina Zhmutskaya und Dmitrii Logunov. 

Logunov lebt schon seit vier Jahren als Student in Marburg und hat im letzten Jahr die studentische Initiative BRUKS und den Verein Kulturdialog Mittelhessen gegründet, der sich für ukrainische Geflüchtete und russische Oppositionelle einsetzt.

Auch er erzählt, dass er in Russland inzwischen als wehrpflichtig gelte, der Einberufungsbefehl sei an die Adresse seiner Mutter in Russland geschickt worden. Nach Russland reisen könne er deshalb momentan nicht - ohne zu riskieren eingezogen zu werden.

Drei Personen

Die 20-jährige Zhmutskaya ist erst vor wenigen Wochen aus Moskau geflohen, nachdem sie sich dort nach eigenen Angaben offen gegen den Krieg protestiert hatte und mehrfach verhaftet worden war. Auch sie beantragt derzeit Asyl in Hessen.

Alle drei gehen davon aus: Weil sie Putins Krieg ablehnen, gelten sie in ihrem Heimatland inzwischen als Hochverräter. Aber alle drei sagen auch: "Wir wären lieber ins Gefängnis gegangen, als diesen Krieg zu unterstützen."

Anm. d. Red.: In einer früheren Version hatten wir den Nachnamen des Protagonisten falsch geschrieben. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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