Radprofi Lennard Kämna vor dem Giro d'Italia - Über Cottbus in die Weltspitze

Do 04.05.23 | 20:59 Uhr | Von Ilja Behnisch
Radprofi Lennard Kämna (imago images/Jaroslav Svoboda)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.05.2023 | Holger Gerska | Bild: imago images/Jaroslav Svoboda

Radprofi Lennard Kämna (26) gilt als riesiges Talent und geht als Kapitän des größten deutschen Rennstalls an den Start des renommierten Giro d'Italia. Dabei stand seine Karriere bereits vor dem Aus. Und das nicht nur einmal.

Dass Lennard Kämna (26) kein gewöhnlicher Radprofi ist, lässt sich schon geographisch erahnen. Geboren in Wedel, aufgewachsen in Fischerhude bei Bremen, und trotzdem ist Kämna nicht nur ein Zeitfahr- sondern auch ein Bergspezialist. Schon immer sei er "viel lieber berghoch gefahren als bergab", sagt Kämna in der "Sportclub Story" des NDR [ndr.de], einem 30 Minuten langen Special, das hinter die Fassade von "Deutschlands größten Radsport-Talent seit Jan Ullrich" blickt.

Dass Kämna überhaupt zum Radsport findet, hat vor allem mit Vater Gerald zu tun, einem ambitioniertem Hobby-Fahrer. Mit ihm fahren Lennard und sein Bruder John viele gemeinsame Touren. Auch in der Ferne. Kämna ist zehn Jahre alt, als er erstmals Alpe d’Huez bezwingt, einen der berühmtesten Anstiege der Tour de France. Danach ist er "einfach gehypt", wie er sagt.

Juniorenweltmeister und Pause

Mit 13 zieht es Kämna nach Cottbus auf die Lausitzer Sportschule. Bruder John, der den Schritt vor ihm gegangen ist, doch schnell wieder zurückgeht, rät ab. Doch für Lennard ist der strikte Alltag genau richtig. Alles ist vorgegeben, "und das habe ich einfach so abgearbeitet", sagt Kämna im "Sportclub"-Gespräch.

Dabei hatte auch er durchaus zu kämpfen mit der neuen Umgebung, rund 500 Kilometer von zu Hause entfernt. Sein damaliger Trainer Rainer Gatzke erinnert sich: "Er hat immer ein bisschen zu kämpfen gehabt mit der Umsiedlung. Für Lennard war das hier Großstadt." Und offenbar eine gute Schule.

Das merkt auch Vater Gerald, der Sohn Lennard ein Jahr später bei einer Tour auf die Probe stellt, alles aus sich und seinem Körper heraus holt und dabei konstatieren muss, dass "der Bengel nicht aus dem Windschatten rausflog".

Dass das keine Schande ist, beweisen die sportlichen Erfolge der kommenden Jahre. Kämna wird Junioren-Weltmeister im Einzelzeitfahren (2014), Zeitjahr-Europameister der Kategorie U23 (2015) und schließlich Profi. Mit 20 Jahren und als Jüngster der World Tour überhaupt. Zum Einstieg wird er prompt Weltmeister im Mannschaftszeitfahren. Die Zukunft sieht rosig aus.

Und Kämna? Steigt aus. Braucht eine Pause, weil ihm mental alles zu viel wird. Für einige Wochen rührt er das Rad überhaupt nicht an. Seele auftanken in der Heimat. Mit Erfolg. Zumindest vorerst.

Nach dem großen Triumph herrscht Leere

2020 unterschreibt er beim Team Bora-hansgrohe, Deutschlands größtem Rennstall. Er knüpft an seine guten Leistungen an, gewinnt 2020 eine Etappe der Tour de France, erfüllt sich so seinen Kindheitstraum.

Doch statt überbordender Freude ist da wieder nur Leere. Der Vater sagt, Lennard "war körperlich weiter als mit dem Kopf". Lennard sagt: "Ich habe mein Leben falsch gelebt." Mutter Sonja sagt: "Das Wichtigste ist, dass man auch was anderes neben dem Radsport hat." Es ist die Eintönigkeit des Profi-Radsports, die Kämna an schlechten Tagen zu schaffen macht.

Also wieder Pause, dieses Mal für neun Monate. Er sucht sich psychologische Hilfe, zieht an den Bodensee und dort mit seiner Freundin zusammen, einer früheren Eiskunstläuferin. Sie hilft ihm, im Alltag auch andere Seiten des Lebens zu entdecken, jenseits des Radsports. Auch weil sie weiß: "Sportler können Sportler besser verstehen."

Ende Oktober 2021 ist die Lust zurück, Kämna wieder Teil des Profi-Zirkus. Und wie. Etappen-Sieg beim Giro d’Italia 2022. Anschließend deutscher Meister im Einzelzeitfahren. Bei der Tour de France verpasst er nur knapp einen Etappensieg, ebenso die Möglichkeit, zumindest für einen Tag das Gelbe Trikot des Gesamtführenden zu übernehmen.

Dennoch wird deutlich: Kämna ist nun bereit für größere Aufgaben. Aus dem Etappenfahrer wird ein Klassementfahrer, einer für den Gesamtsieg.

Ziel sind die Top 10

Mit dieser Einstellung tritt der 1,81 Meter große und etwa 65 Kilogramm schwere Kämna auch beim diesjährigen Giro d’Italia (Start am 6. Mai) an. Als Kapitän seines Teams. Und mit ambitionierten Zielen. Er erhoffe sich die Top 10, sagt Kämna. Für einen so stillen Typen wie ihn, aus dessen Augen immer auch der Argwohn zu blicken scheint, ist das allerhand.

Und mehr noch. Er will das Rennen "mitgestalten", nicht nur einer unter vielen sein. Mit dem damit einhergenden Druck könne er inzwischen gut umgehen. Vor ein paar Jahren sei das noch zu sehr Bürde gewesen, "momentan habe ich sehr viel Lust drauf", so Kämna gegenüber dem NDR.

Die Gedanken, den Sport ganz an den Nagel zu hängen, sind für den Moment weit weg. "Eigentlich will ich schon mal wissen, was so in mir steckt". Was möglich ist, wenn er alles aus sich herausholt.

Der diesjährige Giro soll der erste große Prüfstein dafür sein. Kämna, so sagen die Experten, sei in Topform. Und dann beginnt die Rundfahrt auch noch mit einem Zeitfahren, Kämnas Spezialdisziplin. 70 Kilometer gegen die Uhr. Es könnte genau der richtige Auftakt für ihn sein. Auch wenn der Giro im Anschluss noch rund 50.000 Höhenmeter parat hat.

Wenn alles gut läuft, freut er sich drauf. Der Radprofi Lennard Kämna aus Fischerhude bei Bremen. Er ist eben kein gewöhnlicher Profi.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.05.2023, 19:15 Uhr

Beitrag von Ilja Behnisch

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