Symbolbild:Ein Mann mit einer Palästinaflage über den Schultern läuft einen Weg entlang.(Quelle:picture alliance/AA/A.Hosbas)

Berlin Interview | Palästinensische Autorin: "Es ist unglaublich anstrengend, Palästinenser in Deutschland zu sein"

Stand: 01.10.2024 07:36 Uhr

Viele palästinensische Menschen fühlen sich in der öffentlichen Debatte seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr wahrgenommen. Die Sozialmanagerin Jouanna Hassoun versteht, wie es dazu kommen konnte. Sie attestiert Deutschland ein Empathie-Problem.

rbb: Frau Hassoun, seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Beginn des Gaza-Krieges ist jetzt bald ein Jahr vergangen. Wie geht es Ihnen?
 
Jouanna Hassoun: Nicht gut. Ich mache mir gerade sehr große Sorgen, was auch im Libanon passiert. Die Situation eskaliert weiter und weiter. Ich habe Familie und Freunde im Libanon. Ich habe selbst den Krieg im Libanon miterlebt. Ich weiß, was das für die Menschen bedeutet, vor allem, weil die Gesundheitsversorgung katastrophal ist.

Wie verarbeiten Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Krieg seit dem letzten Jahr, seit dem 7. Oktober?
 
Ich bin traumatisiert. Ich weine sehr oft. Manchmal werde ich auch wütend. Aber ich stürze mich hauptsächlich in Arbeit und versuche, mit den wenigen Menschen, mit denen ich darüber reden kann, darüber zu sprechen. Aber so viele sind das tatsächlich nicht, weil es immer einsamer wird, in diesem vergifteten Diskurs standzuhalten.

Was meinen Sie damit, dass es einsamer wird?
 
Die Lautstarken werden immer lauter. Die Radikalisierung auf beiden Seiten nimmt so stark zu, dass es kaum noch Platz gibt für die Grautöne, für die Menschen, die sich um Zivilisten sorgen, wo es nicht um politische Ideologie geht. Was mich am meisten schockiert: Die Debatte ist mittlerweile so stark entmenschlicht und immer noch so stark rassistisch. Palästinensische Identität hat da so gut wie gar keinen Raum.
 
Die Mehrheit der palästinensischen Menschen, die hier in Deutschland versucht, ihrer Arbeit und ihrem Leben nachzugehen, traut sich kaum mehr zu sagen: "Wir sind PalästinenserInnen."

Wie haben Sie das selbst erlebt unmittelbar nach dem 7.Oktober, und wie ist das heute?
 
Ich habe mich schon immer Palästinenserin genannt. Auch in der Vergangenheit war es mir immer wichtig, zu sagen: Ich bin keine Libanesin [Anm. d. Red.: Jouanna Hassoun wurde im Libanon geboren], sondern Palästinenserin. Allerdings hätte ich nicht erwartet, die Quotenpalästinenserin zu sein, die auf einmal für alle palästinensischen Menschen in Deutschland sprechen soll oder muss. Ich möchte auch an der Stelle sagen, ich spreche nicht für alle palästinensischen Menschen, aber ich versuche ein Sprachrohr zu sein für die, die sich nicht so artikulieren können, um auf ihren Schmerz aufmerksam zu machen. Ich mache das nicht, weil mir das Spaß macht, ich mache das einfach nur, damit wir sichtbar sind, damit wir sichtbar bleiben. Oft denke ich: Es ist sinnlos, wem soll ich denn überhaupt noch etwas vermitteln, es ist doch alles gesagt worden, und trotzdem werden wir nicht als Menschen wahrgenommen.

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Welche Folgen hat es, wenn eine Seite, wenn die Palästinenser, nicht wahrgenommen werden?
 
Es gibt zwei Möglichkeiten. Man wird einsam und fühlt sich, als gebe es keinen Platz in dieser Gesellschaft. Oder man wird aktiv, und mit aktiv meine ich: Es schlägt um in Wut. Wut kann destruktiv sein. Wenn wir dann Proteste sehen, wo sehr viel Wut da ist, werden quasi nur die "aggressiven Palästinenser" sichtbar gemacht.

Was bedeutet es, in Deutschland palästinensisch zu sein?
 
Wenn ich hier bin, bin ich die Palästinenserin. Wenn ich im arabischen Ausland bin, bin ich die Deutsche. Wohin gehöre ich denn? Das ist eine Frage, die mir niemand beantworten kann. Aber ich kann es auch niemandem verdenken, wenn sie sagen, sie fühlen sich hier nicht mehr wohl. Es ist unglaublich anstrengend, Palästinenser in Deutschland zu sein.
 
Es gibt eine unglaubliche Diskriminierung gegenüber palästinensischen Menschen. Wir haben aber auch ein Problem mit Antisemitismus. Es wird kaum noch differenziert, stattdessen werden palästinensische und jüdische Menschen gegeneinander ausgespielt.

Wo sehen Sie das besonders?
 
Wir haben einen unglaublich rassistischen Diskurs, der teilweise kaum erträglich ist.
 
Wieso können wir nicht Empathie empfinden für beide Seiten, für palästinensische Menschen und für jüdische Menschen? Warum müssen wir nur eine Seite wählen? Vielleicht ist die richtige Seite einfach, den Menschen im Fokus zu haben und nicht eine politische Ideologie oder einen ethnischen oder religiösen Background. Das müssen wir uns vergegenwärtigen. Wenn wir das nicht im Fokus haben, wenn wir das nicht reflektieren, dann haben wir als Gesellschaft hochgradig versagt. Wir müssen doch verhindern, dass Menschen sterben.

Können Sie etwas genauer beschreiben, was Sie am deutschen Diskurs konkret kritisieren?
 
Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll, ehrlich gesagt. Es sind so viele Tiefpunkte. Es macht mich wütend. Zum Beispiel gab es die UN-Generalversammlung, in der es darum ging, die Besatzung zu beenden. Ich weiß ja, was die Rolle von Deutschland ist. Und natürlich – oder nicht natürlich – hat sich Deutschland enthalten. Wie kann man denn bitte sich enthalten, wenn es um das Völkerrecht geht? Gelten die Menschenrechte nur für eine bestimmte Gruppe, aber nicht für die Palästinenser? Auf einer rein menschlichen Ebene gibt es darauf keine Antwort.

Menschenrechte werden von beiden Seiten verletzt.
 
Wir haben Faschisten auf der palästinensischen Seite mit der Hamas. Wir haben Faschisten auf der israelischen Seite, sogar mit einigen Ministerien. Es sind beide Faschisten. Die einen sind Vertreter einer Regierung, die anderen sind Vertreter einer Miliz. Für die Palästinenser sind sie auch die Regierung. Wieso können wir nicht benennen, dass es Faschisten sind? Ich begebe mich gerade auf sehr dünnes Eis. Aber eine menschenverachtende Ideologie bleibt eine menschenverachtende Ideologie, egal von wem sie kommt. Wenn die einen sagen, sie wollen die Palästinenser auslöschen, die Palästinenser sind Tiere, dann ist es menschenverachtend und es ist rassistisch. Wenn auf der anderen Seite die Hamas sagt, sie wolle jüdisches Leben auslöschen, dann ist es menschenverachtend und es ist antisemitisch. Punkt.
 
Ich finde, so mutig sollten wir doch sein, um das aussprechen zu können, ohne direkt in eine Verharmlosung zu rutschen von der Ideologie der Hamas oder in die Verharmlosung von Antisemitismus. Wir haben ein Problem in Deutschland mit Rassismus und wir haben ein Problem in Deutschland mit Antisemitismus. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Solange wir uns nur mit unseren Befindlichkeiten beschäftigen und Schnappatmung bekommen, werden wir nicht weiterkommen. Die Situation eskaliert, sie eskaliert auf unseren Straßen und kaum noch jemand ist bereit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

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Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Medienberichterstattung im deutschen Diskurs?
 
Es gibt wenige gute Beiträge. Ich verstehe aber auch, dass palästinensische Menschen sagen: Ich habe Angst, meine Familie in Gefahr zu bringen, ich habe Angst vor einem Antisemitismusvorwurf. Das ist alles berechtigt, ich kann das alles nachvollziehen. Andererseits: Wenn ich mit niemandem spreche, brauche ich mich auch nicht zu wundern, wenn ich nicht gehört werde.
 
Leider haben einige Medienhäuser, auch die öffentlich-rechtlichen, dazu beigetragen, dass diese Angst nicht weniger wird. Die Berichterstattung ist teilweise einfach katastrophal. Damit meine ich, dass bestimmte Aussagen - beispielsweise direkt von Militärvertretern - eins zu eins übernommen werden. Wenn wir von unabhängiger, neutraler Presse sprechen, sollten wir vielleicht eher Zahlen von Menschenrechtsorganisationen übernehmen als von Regierungsvertretern.

Gab es auch Situationen im vergangenen Jahr, wo Sie Solidarität erfahren haben?
 
Es gibt Menschen, die mir schreiben und sich solidarisieren. Es gibt Menschen, die bei Vorträgen auf mich zukommen und mich umarmen wollen und sich bedanken. Ja, es gibt Solidarität. Ich glaube, wenn es die nicht gäbe, wenn es auch nicht zahlreiche Menschen gäbe, die sich solidarisieren, hätte ich schon längst die Hoffnung aufgegeben.

Daraus würde ich jetzt ableiten: Sie haben noch Hoffnung. Was für eine Hoffnung haben Sie noch?
 
Ich habe keine Hoffnung in die Politik. Ich habe keine Hoffnung in die politischen Systeme. Das macht mich unfassbar traurig,weil ich ein politischer Mensch bin. Meine Hoffnung beschränkt sich darauf, zu sagen: Es gibt Menschen wie mich, palästinensische und jüdische,
 
israelische Menschen, die füreinander einstehen, die das Leid des anderen und die Existenz des anderen anerkennen.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Tina Friedrich, rbb24 Recherche

Sendung: rbb-Fernsehen, 01.10.2024, 21:15 Uhr