Jugendliche ohne Ausbildungsplatz Berlin will elftes Pflichtschuljahr einführen

Stand: 22.06.2023 16:47 Uhr

Viele Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz wissen nach der 10. Klasse nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll. Für sie will die schwarz-rote Landesregierung in Berlin ein zusätzliches Pflichtschuljahr einführen. Von A. Sundermeyer und K. Buchmann.

Es ist sommerlich schwül im Klassenraum der 10. Klasse der Friedensburg-Oberschule in Charlottenburg. Die Jugendlichen haben Unterricht in Gesellschaftswissenschaften und brüten über den Fragen ihrer Lehrerin zum Thema "Flüchtlingspolitik".
 
Schon bald werden sie den stickigen Klassenraum hinter sich lassen – für die Zeit nach der 10. Klasse haben sie ganz unterschiedliche Pläne. Von den rund 220 Schülerinnen und Schülern des zehnten Jahrgangs wollen zwei Drittel in der gymnasialen Oberstufe weiterlernen. Die meisten anderen starten eine Ausbildung.

Symbolbild: Die Abgeordneten sitzen im Plenarsaal vom Berliner Abgeordnetenhaus. (Quelle: dpa/C. Gateau)
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Schüler nicht durchs Raster fallen lassen

Für zehn Jugendliche sei aber noch nicht ganz klar, wie es weitergeht, sagt Schulleiter Sven Zimmerschied. Für sie fände er ein elftes Pflichtschuljahr gut. Das Positive sei "mit Sicherheit, dass man diese Schüler, die abgehen und nichts haben und nichts machen, im Bildungssystem behält."
 
So schaffe man vielleicht doch die Möglichkeit, dass sie sich in dem Jahr "neu aufstellen und vielleicht doch einen Ausbildungsplatz finden." Schulleiter und Schüler sind sich da offenbar einig. Denn auch der 16-jährige Seymen, der nach den Sommerferien eine schulische Ausbildung zum Metallbauer beginnen möchte, findet ein elftes Pflichtschuljahr gut. "Das ist wie eine zweite Chance für die Leute, die sehr viel recherchiert aber nichts gefunden haben."

"Wie eine zweite Chance"

Seymens Schulfreund Kassem nickt. Er hat ebenfalls schon konkrete Pläne, will auf ein Oberstufenzentrum wechseln, um einen bessern Abschluss zu schaffen. Auch er sieht ein elftes Pflichtschuljahr für alle ohne Anschlusspläne als eine echte Chance: "Viele könnten dann mehr Lernen. Zum Beispiel die, die bis zur zehnten Klasse nicht so viel gemacht haben, hätten ein elftes Schuljahr, wo sie das nachholen könnten."
 
Klassenleiterin Larissa Heiligenstedt hat schon Schülerinnen und Schüler unterrichtet, denen ein elftes Pflichtschuljahr geholfen hätte. Allerdings sollte das aus ihrer Sicht anders aufgebaut sein, als die zehnte Klasse, um den Jugendlichen eine bessere berufliche Orientierung zu geben. Der Übergang auf die Berufsausbildung könne "intensiver gestaltet werden, indem man die Schüler mehr auf die Praxis vorbereitet." Mehr "Input durch Praktika" und nicht rein durch die Unterrichtsfächer der 10. Klasse, das wünsche sie sich für ihre Schüler, so Heiligenstedt.

Enger Zeitplan

Ab dem Schuljahr 2024/25 will die schwarz-rote Koalition in Berlin das elfte Pflichtschuljahr einführen - für die, die nach der zehnten Klasse weder einen Ausbildungsplatz noch andere Perspektiven haben. Derzeit betrifft das rund zehn Prozent eines Jahrgangs, also berlinweit gut 3.000 Jugendliche. Der Zeitplan der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch sei ambitioniert. Da sind sich Schulleiter und Lehrerin einig. Klar ist bis jetzt nur, dass die neuen Klassen bei den 46 Berliner Berufsschulen angesiedelt sein sollen.
 
Unklar ist aber bisher, woher das Personal bei dem in Berlin chronischen Lehrkräftemangel kommen soll. Ronald Rahmig, Vorsitzender des Berufsschulleitungsverbands, sieht beim elften Pflichtschuljahr nicht ausschließlich die beruflichen Schulen, sondern auch die Sekundarschulen in der Pflicht.
 
Ein Punkt ist dem erfahrenen Berufsschulleiter dabei besonders wichtig: Es ginge längst nicht nur um die berufliche Orientierung, sondern auch um das "Nachrüsten" in Grundkenntnissen. "Die Schülerinnen und Schüler müssten alle in Klasse 10 bestimmte Standards erfüllen. Das tun sie im Moment aber flächendeckend nicht." Deutsch, Mathe, Englisch – das sei "nicht bei allen so, wie es sein sollte. Viele sind noch gar nicht in der Situation, dass man mit ihnen belastbar über eine Berufsausbildung sprechen kann."

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"Es sind Schüler, die Unterricht schwänzen"

Das räumt auch der Schulleiter der Friedensburg-Oberschule, Sven Zimmerschied, ein. "Es sind Schüler, die Unterricht schwänzen, mit häuslichen oder auch gesundheitlichen Problemen. Die treffen dann da in einer Klasse zusammen an der Berufsschule. Da braucht es sozialpädagogisch, wenn nicht sogar psychologisch geschultes Personal. Aber das ist ja für die Berufsschulen auch schwer, das entsprechende Personal zu finden."
 
Senatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) steht beim 11. Pflichtschuljahr also vor einer dreifachen Herausforderung. Es geht nicht nur darum, mehr Personal zu finden. Sondern auch darum, qualifizierte Lehrkräfte zu haben, die "schwierige Fälle" gezielt unterstützen können. Das alles bei einem Mangel von rund 1.460 Lehrerinnen und Lehrern, die trotz Verbeamtung jetzt schon fehlen. Dazu kommt, dass ein Konzept für das 11. Schuljahr erst ausgearbeitet werden muss. Für die Senatorin steht fest: "Es ist kein Schuljahr, sondern wir wollen auf die Berufe gezielt vorbereiten, mit Maßnahmen, die es schon gibt. Dazu zählen die überbetriebliche Ausbildung und die integrierte Berufsausbildungsvorbereitung."
 
Das ginge aber nur mit "starken Partnern aus der Wirtschaft", mit denen sei man im Gespräch. Um Lehrpersonal für die 11. Klassen zu bekommen, möchte Günther-Wünsch neben Quereinsteigern und Seiteneinsteigern auch Ein-Fach-Lehrkräfte zusätzlich qualifizieren. Außerdem sollen ausländische Pädagogen im Schulsystem unterstützen. Die Arbeit muss Günther Wünsch den angehenden Lehrkräften der elften Klassen den Unterricht allerdings auch schmackhaft machen. Die Erfahrung in Brandenburg hat gezeigt, dass der Unterricht in den elften Klassen wegen der eher "schwierigen Klientel" nicht besonders beliebt ist.

Keine reine Wiederholung der 10. Klasse

Senatorin, Schulleiter, Schüler und Klassenlehrer sind sich alle einig: Auf keinen Fall sollten die Schülerinnen und Schüler ein weiteres Jahr im Klassenraum absitzen. Um genau das zu verhindern, sind dem schulpolitischen Sprecher der Grünen, Louis Krüger auch Lernorte außerhalb der Schule wichtig - ganz nach Bedarf der Jugendlichen. "Das können auch informelle Bildungseinrichtungen sein, wie das 'Street College' in Friedrichshain Kreuzberg, wo mit den Jugendlichen gerappt wird und mit ihnen auf andere Art und Weise umgegangen wird, als im bisherigen Schulsystem", so Krüger.
 
Schon nächstes Jahr nach den Sommerferien soll also kein Jugendlicher mehr ohne Ausbildungsplatz oder andere Perspektive auf der Straße stehen. Wer nichts hat, hat die 11. Klasse: Wie dort Unterricht aussehen kann und wer ihn gibt – das bleiben dringende Hausaufgaben auf dem Tisch der Koalition.