Wie können Kinder und Jugendliche vor Gewalt geschützt werden? (Symbolbild)
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Wie können Kinder und Jugendliche vor Gewalt geschützt werden?

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"Noch Luft nach oben": Schutzkonzepte in Kinderheimen

Nach dem Tod eines Mädchens in einem Kinderheim in Wunsiedel wird darüber diskutiert, wie Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen generell vor Gewalt geschützt werden können. Experten zufolge könnten bessere Schutzkonzepte dazu beitragen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Im Thomas Wiser Haus in Regenstauf im Landkreis Regensburg haben die Verantwortlichen in den vergangenen Monaten ein neues Schutzkonzept erstellt - berichtet Lorenz Dineiger. Er ist Sozialpädagoge, Erzieher und Regionalleiter der Einrichtung.

Kinder und Jugendliche kommen aus "belasteten Kontexten"

An den verschiedenen Standorten des Thomas Wiser Hauses in und um Regenstauf wohnen rund 100 junge Menschen. Es ist ihr Zuhause auf Zeit, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihren Familien leben können. Dineiger spricht von "belasteten Kontexten" aus denen die Kinder und Jugendlichen kämen.

Viele hätten zu Hause Gewalt erlebt. Und nicht selten übten Kinder, die in einer frühen Entwicklungsphase Gewalt erfahren haben, diese später auch selbst aus. Die Mädchen und Jungen haben laut Dineiger häufig "nicht die Mittel" um Alltagskonflikte mit Worten zu lösen. "In einer Einrichtung wie unserer, leben Kinder mit solchen Erfahrungen zusammen, das heißt, es kann zu solchen Themen kommen, die gehören zu unserem Arbeitsalltag".

Jede Einrichtung muss Schutzkonzept vorlegen

Der Psychologe Professor Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) beschäftigt sich wissenschaftlich mit Gewaltprävention. "Gerade sind viele Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auf dem Weg, ihre Schutzkonzepte weiterzuentwickeln und zu verbessern", lobt er. Gute Schutzkonzepte können seiner Ansicht nach dazu beitragen, Gewalt und Missbrauch in Heimen und Wohngruppen vorzubeugen, jedenfalls "wenn sie auch gelebt werden".

Laut Sozialgesetzbuch ist jede Einrichtung dazu verpflichtet, ein solches Konzept vorzulegen. Dem Deutschen Jugendinstitut zufolge ist das auch sinnvoll, denn man könne belegen, dass "eine Intensivierung von Schutzkonzepten über das übliche Maß hinaus" zu einem Absinken von Gewalt führt", so Kindler. Vielerorts seien die Konzepte zuletzt auch weiterentwickelt worden. Der Psychologe sagt aber auch: "dass in vielen Einrichtungen schon noch Luft nach oben ist".

Partizipation als Gewaltprävention

Mehr als 150 Seiten stark, unterteilt in 18 Kapitel, ist etwa das Schutzkonzept des Thomas Wiser Hauses geworden. Es sei vieles eingeflossen, was in der Einrichtung bereits umgesetzt und gelebt werde, erklärt Dineiger, der seit mehr als 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe arbeitet. Ein Teil des Papiers widme sich zum Beispiel dem Thema "Partizipation" - also den Mitbestimmungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen.

Von Gruppenregeln bis zum Essensplan diskutieren und entscheiden die Betreuerinnen und Betreuer vieles gemeinsam mit ihren Schützlingen. Ein Baustein, "der letztlich de-eskalierend wirkt und damit schon Konflikten und Übergriffen vorarbeitet, insofern macht das Sinn", erklärt der Sozialpädagoge.

Wichtig: Beschwerdeverfahren und Kinderrechte

Um Kinder vor Gewalt untereinander und vor Gewalt, die von Erwachsenen ausgeht, zu bewahren, sehen die Schutzkonzepte aber noch mehr vor: Laut Kindler vom DJI geht es auch darum, zu formulieren, "welches Verhalten von Fachkräften gegenüber Kindern in Ordnung ist und was nicht in Ordnung ist".

Außerdem brauche es geregelte Beschwerdeverfahren, also einen Plan, wie und wo Kinder sich melden können, wenn sie Gewalt in der Einrichtung erfahren. "Und dann gibt es meistens einen dritten Teil, dass Kinder über ihre Rechte Bescheid wissen, dass sie verstehen, dass sie nicht alles hinnehmen müssen, was Fachkräfte oder Erwachsene mit ihnen machen", zählt der Psychologe auf.

Betriebserlaubnis hängt von Schutzkonzept ab

Themen, die auch in das Papier des Thomas Wiser Hauses eingeflossen sind. Zur Zeit liegt das Schutzkonzept noch bei der Heimaufsicht. Die Behörde ist bei der Regierung der Oberpfalz angesiedelt, die Bezirke sind zuständig für die Kontrollen der Träger von Wohngruppen und Heimen. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz von 2012 forderte der Staat konkrete Maßnahmen zur Gewaltprävention von den Trägern ein - nicht zuletzt eine Folge aus den Skandalen um Gewalt an ehemaligen Heimkindern und dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche.

Den Begriff "Schutzkonzept" als Voraussetzung für die Betriebserlaubnis hat der Gesetzgeber allerdings erst vor zwei Jahren ins Sozialgesetzbuch hineingeschrieben. Das dürfte der Grund dafür sein, dass viele seit Langem bestehende Einrichtungen erst jetzt umfassende und detaillierte Konzepte zu Papier gebracht haben.

Kinderschutz-Experte: Fachkräftemangel enorm

Die Entwicklung der Schutzkonzepte ist nach Ansicht von Psychologe Kindler erfreulich, aber längst nicht abgeschlossen. Auch nehme er wahr, dass die Sensibilität in der Gesellschaft für einen besseren Schutz von Kindern in den Einrichtungen zugenommen habe. Andererseits gebe es "das Problem, dass wir in der stationären Kinder- und Jugendhilfe einen eklatanten Personalmangel haben", so der Kinderschutz-Experte.

Er folgert daraus: "Wenn wir weitere Verbesserungen im Schutz und in der Qualität wollen, dann müssen wir eine Strategie in Gesellschaft und Politik entwickeln, wie wir diesem Fachkräftemangel begegnen wollen". Das sei "eine notwendige Voraussetzung für die Weiterentwicklung von Schutz und Qualität". Und auch dafür, dass die Umsetzung der theoretischen Schutzkonzepte in der Praxis gelängen, ergänzt Dineiger vom Thomas Wiser Haus in Regenstauf. Schließlich sei klar, dass überlastete Mitarbeiter auch mal "was übersehen".

Sollen sich offene Einrichtungen abschotten?

Nicht ausdrücklich gefordert werden vom Gesetzgeber spezielle Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern, dass Menschen von außen auf die Grundstücke und in die Gebäude gelangen können. Erzieher Dineiger und Psychologe Kindler erwarten nach dem Fall in Wunsiedel eine Debatte darüber, ob die Zugangsregeln verschärft werden. Und sind selbst hin- und hergerissen, ob das sinnvoll wäre.

Im Thomas Wiser Haus sind die Eingänge beaufsichtigt - aber nicht zugesperrt. Wer in eine Wohngruppe will, muss klingeln. Fenster sind geschlossen, aber nicht extra versperrt, berichtet Dineiger. Hundertprozentigen Schutz vor ungebetenen Gästen gebe es nicht, sagt der Einrichtungsleiter. Er könne sich aber durchaus vorstellen, zum Schutz der Kinder mehr mit Kamerasystemen zu arbeiten.

Der Sozialpädagoge plädiert gleichzeitig für Augenmaß: Je mehr man versuche so eine Einrichtung abzuschotten, desto schwerer werde der Alltag für all jene, die dort lebten. Auch Kindler sagt, man müsse abwägen, dass wir offene Einrichtungen "nicht zu geschlossenen machen wollen, dass Kinder und Jugendliche da nicht eingesperrt sind".

Bayerns Sozialministerin Scharf gegen "Hochsicherheitstrakt"

Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) hält die derzeitigen Regelungen für ausreichend. Auf Anfrage von BR24 betonte sie, Kinder- und Jugendheime dürften auch nicht zum "Hochsicherheitstrakt" werden. Es sei schließlich "das Zuhause von Kindern und Jugendlichen". Ihnen müsse man "so viel Normalität wie möglich bieten" und gleichzeitig für Sicherheit sorgen. Scharf zog dabei nicht in Zweifel, dass die gesetzlichen Bestimmungen kontrolliert und im Zweifelsfall von der Heimaufsicht beanstandet werden.

Das Team um Dineiger im Thomas Wiser Haus in Regenstauf wartet nun auf eine Rückmeldung der Heimaufsicht: Zu einem Schutzkonzept, das die Einrichtung auch aus eigenem Antrieb immer weiterentwickeln wolle, so Dineiger. Er hat festgestellt, dass der Prozess so ein Papier zu erstellen "schon für ein Bewusstsein sorgt und man vielleicht noch einmal Hausaufgaben mitnimmt". Konkret will er sich die "Gruppenregeln" noch einmal anschauen, Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Kinder und Jugendlichen ausbauen und Schulungen für Mitarbeiter organisieren.

Auch Schutzkonzepte bieten keine 100-prozentige Sicherheit

Klar ist aber auch - da sind sich die Experten aus Wissenschaft, Politik und aus der Praxis einig: Kein Schutzkonzept der Welt kann völlige Sicherheit bieten. "Eine Einrichtung wie unsere kann niemals zu 100 Prozent gewaltfrei sein", so Dineiger.

Aber er ist überzeugt: So ein Schutzkonzept könne ein Bewusstsein schaffen, die Nachbearbeitung von Fällen vorantreiben und damit die Häufigkeit von Gewalt reduzieren.

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