Verkehrssoziologe zu Ramsauer-Plan "Die Reform ist ein Etikettenschwindel"

Stand: 09.02.2012 16:53 Uhr

Rasen, Drängeln, Hupen - die Aggression im Straßenverkehr steigt trotz Verkehrssünderdatei. Verkehrsminister Peter Ramsauer will das System reformieren. Wie effektiv sind die Pläne? Verkehrssoziologe Alfred Fuhr hält sie für "Etikettenschwindel". Im Interview mit tagesschau.de fordert er ein grundsätzliches Umdenken.

tagesschau.de: Was bringt die geplante Reform von Verkehrsminister Peter Ramsauer?

Alfred Fuhr: Der Minister will das System vereinfachen, sagt er. Für mich ist das ein Etikettenschwindel, denn es ändert sich grundsätzlich nichts. Es gibt weniger Punkte für Vergehen, dafür ist der Führerschein bei einer geringeren Punktzahl weg. Das ist für mich keine Reform. Ich glaube eher, der Verkehrsminister musste mal wieder zeigen, dass es ihn überhaupt gibt.  

tagesschau.de: Künftig soll die Staffelung der Punkte je nach Höhe der Geschwindigkeitsübertretung weitgehend wegfallen. Ist das sinnvoll?

Fuhr: Ich finde es im Gegenteil unsinnig, schwere Fälle nicht mehr von den leichteren zu unterscheiden. Zu schnell fahren vor dem Kindergarten und in einer geschlossenen Ortschaft ist viel gefährlicher, als auf einer weitgehend unbefahrenen Landstraße ein paar Kilometer zu viel zu haben. Es macht auch einen Unterschied, wie viel ich zu schnell fahre. Wenn diese Differenzen weitgehend wegfallen, dann existiert kaum eine Möglichkeit mehr, schwere von leichteren Vergehen zu trennen.

tagesschau.de: Der Abschreckungseffekt durch die Sünderdatei in Flensburg hat bisher wenig gebracht. Die Aggression im Straßenverkehr hat im Gegenteil zugenommen. Warum?

"Fahrer, die sich regelkonform verhalten, müssen belohnt werden"

Fuhr: Abschreckung funktioniert nur, wenn meine Regelverstöße spürbare Konsequenzen haben. Das ist bisher nicht ausreichend der Fall. Sie können sich mit einem Bußgeld freikaufen. Ich würde mir wünschen, dass man sich um die so genannte Raserpersönlichkeit - den Manager, der auf der Autobahn seinen Stress abreagiert - frühzeitig und konkret kümmert. Er müsste stärker zum Umdenken gezwungen werden. Auch der Arbeitgeber müsste informiert werden. Es sollte eine größere soziale Kontrolle geben bei wiederholten und gravierenden Regelverstößen, denn sie gefährden die Sicherheit.

tagesschau.de: Reicht es denn, auf Abschreckung und Strafe zu setzen?

Fuhr: Wir brauchen als Kehrseite der Medaille auch ein anderes System der Belohnung. Bei uns wird der belohnt, der sich nicht erwischen lässt. Es wird aber nicht belohnt, wenn ich mich regelkonform oder vorausschauend und umsichtig verhalte. Wer andere Verkehrsteilnehmer auf Verstöße hinweist, der gilt bei uns als oberlehrerhaft. Wer prahlt, dass er beim Rasen nicht erwischt wurde, ist ein Held.

tagesschau.de: Wie könnte solch ein Belohnungssystem aussehen?

Fuhr: Verkehrssicheres Verhalten muss belohnt werden. Es gibt keine Beihilfen für Firmen, die ihre Mitarbeiter im Außendienst entsprechend schulen und verkehrssicher ausstatten. Der Einbau eines Assistenten, der Fahrer auf Geschwindigkeitsübertretungen aufmerksam macht, müsste gefördert werden. Bisher sind schicke Alu-Reifen günstiger als diese technischen Kontrollhilfen. Hier ist auch die Politik gefragt.

"Wir brauchen eine Kultur der Entschleunigung"

tagesschau.de: Regelverstöße und Aggression im Straßenverkehr nehmen zu. Welche Ursachen hat das?

Fuhr: Die Zeitfenster werden immer enger. Es müssen immer mehr Termine in einen Tag hinein passen. Im Straßenverkehr versucht man dann, verloren gegangene Zeit wieder reinzuholen. Schnelligkeit wird in unserer Gesellschaft mit Erfolg verbunden. Das geht schon in der Schule los: Nicht der Schüler wird belohnt, der eine Aufgabe gründlich durchdenkt, sondern der, der sich zuerst meldet und möglichst schnell eine Antwort hat. Schnelligkeit wird als Wert an sich gesehen. Deshalb ist ein schnelles Auto mit viel PS begehrter als ein ökologischer Kleinwagen und wird auch gesellschaftlich mehr honoriert.

tagesschau.de: Wer ist besonders gefährdet, ein Raser oder Verkehrsrüpel zu werden?

Fuhr: Es sind die Berufsgruppen, die viel am Steuer sitzen. Ein Kraftfahrer hat das Gefühl, die Autobahn sei sein Arbeitsplatz. Deshalb bleibt er auch mal länger auf der linken Spur, als nötig. Auch Taxifahrer meinen oft, für sie würden eigene Regeln gelten. Radfahrer fühlen sich als ökologische Verkehrsteilnehmer oft moralisch überlegen und glauben deshalb, sie müssten die Verkehrsordnung nicht beachten. Und der Manager, der von Termin zu Termin rast und das Gefühl hat, wichtiger Entscheidungsträger zu sein, der nimmt für sich eben auch in Anspruch, nach eigenen Regeln auf "seiner" Straße zu agieren. Das Problem dabei ist: Je mehr Menschen aus dem Regelsystem aussteigen, desto schlechter funktioniert es. Nur ein Regelsystem, was von allen anerkannt und respektiert wird, hat letztendlich Bestand.

tagesschau.de: Was müsste sich grundsätzlich ändern, damit die Akzeptanz für die Verkehrsregeln wieder wächst?

Fuhr: Wir brauchen eine Kultur der Entschleunigung. Wir bräuchten ein Belohnungssystem für all die Verkehrsteilnehmer, die sozial und regelkonform fahren. Und wir müssten bei Regelverstößen viel konsequenter intervenieren: durch Schulungen und Reflexionshilfen. Das alles fehlt bei der Reform des Verkehrsministers.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.