Hintergrund

Debatte nach Radhelm-Urteil Helmpflicht durch die Hintertür?

Stand: 17.06.2014 04:52 Uhr

Eigentlich ist die Debatte vom Tisch, denn auch Bundesverkehrsminister Ramsauer hatte zuletzt eine Helmpflicht für Radfahrer abgelehnt. Doch das Oberlandesgerichts Schleswig könnte mit einem Urteil eine Art Helmpflicht durch die Hintertür einführen.

Der Unfall passierte schon im April 2011. Ein Physiotherapeutin aus Glücksburg fuhr mit ihrem Rad an einem parkenden BMW vorbei, als die Fahrerin plötzlich unachtsam die Tür öffnete. Die Radfahrerin konnte nicht mehr ausweichen und stürzte. Wegen der schweren Kopfverletzungen lag sie zwei Monate im Krankenhaus und konnte nur langsam wieder ins Arbeitsleben einsteigen.

Obwohl unstrittig ist, dass die Autofahrerin den Unfall allein verursachte und sich grob fahrlässig verhielt, kam es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung um die Aufteilung von Unfallkosten und Schmerzensgeld. Die Autofahrerin und deren Versicherung meinten, dass die Radfahrerin zur Hälfte mit Schuld sei, weil sie keinen Schutzhelm getragen habe.

Vor gut einem Monat entschied das Oberlandesgericht Schleswig in der Sache und löste mit seinem Urteil eine Welle von Diskussionen aus. Denn auch nach Ansicht des Gerichts trifft die Radfahrerin eine Mitschuld an den Unfallfolgen. Zwar nicht zu 50, aber immerhin zu 20 Prozent.

Nach Ansicht des Gerichts könne davon ausgegangen werden, "dass ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird, soweit er sich in den öffentlichen Straßenverkehr mit dem dargestellten besonderen Verletzungsrisiko begibt".

Welle der Empörung

Schnell war von einer "Helmpflicht durch die Hintertür" die Rede. Und tatsächlich scheinen einzelne Versicherungsgesellschaften bereits zu prüfen, inwieweit sie Ansprüche verunglückter Radfahrer mindern können, sofern diese keinen Fahrradhelm getragen haben.

Online machte sich eine Welle der Empörung breit. Viele Alltagsradfahrer mögen keinen Helm. Die Zahl der Helmpflichtbefürworter ist in etwa so groß wie die Zahl der Helmträger und liegt bei grob 30 Prozent. Gegen den Helm spricht die Bequemlichkeit, der Umstand, dass ein Helm unhandlich und schwer zu verstauen ist, die Sorge um die Frisur und - gerade bei jungen Leuten - die Optik. Radfahren gehört für viele Menschen zum urbanen Lebensgefühl. Es geht um Freiheit, um den Wind in den Haaren, um die eigene Persönlichkeit.

Es geht um mehr als Helme

Sich nicht von Gerichten oder Versicherungskonzernen bevormunden lassen zu wollen, ist eine Seite des Protests. Die andere hat mit der Urteilsbegründung zu tun, in der für viele Kritiker die Dominanz des Autos auf unseren Straßen geradezu zementiert wird: "Entscheidend ist vielmehr das besondere Verletzungsrisiko, dem Fahrradfahrer heutzutage im täglichen Straßenverkehr ausgesetzt sind, wie dieser Streitfall plastisch zeigt. Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden", schreibt das Gericht.

Ulrich Syberg, der Bundesvorsitzende des Fahrradclubs ADFC, hofft, dass das "die letzten Zuckungen" einer allein autoorientierten Perspektive sind. Längst habe eine "kleine Revolution" stattgefunden: "Die Menschen wollen nicht mehr akzeptieren, dass das Auto alles bestimmt und andere darauf reagieren müssen."

Es geht bei dem Streit um Fahrradhelme und eine Helmpflicht also auch um ein wirklich partnerschaftliches Verhalten im Verkehr, um eine Begegnung auf Augenhöhe, letztlich um "Stadtstraßen für alle", auf denen Autos gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern keine besonderen Vorrechte genießen.

Helmpflicht schreckt vom Radfahren ab

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung will der ADFC die Radfahrerin unterstützen, beim Bundesgerichtshof in Revision zu gehen. Wenn sich das Urteil dabei bestätigen sollte, wäre das ein "herber Rückschlag". Syberg befürchtet, dass seine Tante in Potsdam nie mehr aufs Rad steigen würde und viele andere Menschen auch nicht.

Untersuchungen aus anderen Ländern zeigten eindeutig, dass mit Einführung einer Helmpflicht die Zahl der Radfahrer deutlich abgenommen habe. Und das ist nicht nur bedauerlich, weil es allen Ideen einer zukunftsfähigen Stadtmobilität zuwider läuft. Es hätte auch konkrete Auswirkungen auf das Unfallfallgeschehen.

Viele Radfahrer machen Radfahren sicher

Studien aus Kalifornien und Großbritannien konnten zeigen, dass mehr Radfahrer auf der Straße das Radfahren sicherer machen. "Safety in numbers" nennen die Verkehrsforscher diesen Effekt. Sind viele Radfahrer unterwegs, stellen sich die Autofahrer darauf ein und fahren rücksichtsvoller. Außerdem kennen dann viele Menschen beide Perspektiven, die hinter der Windschutzscheibe und die am Fahrradlenker. Und oft sind viele Radfahrer auch ein Anlass, in die Infrastruktur zu investieren.

Bestes Beispiel sind die Niederlande: Nach Angaben des europäischen Radfahrerverbandes ECF hat die Fahrradnutzung zwischen 1980 und 2005 um 45 Prozent zugenommen, gleichzeitig ist das Unfallrisiko aber deutlich gesunken. Heute zählt kaum ein europäisches Land - bezogen auf die Einwohnerzahl - weniger Verkehrstote als die Niederlande. Vermutlich nicht trotz, sondern wegen des hohen Radverkehrsanteils. Und obgleich die Niederländer so gut wie nie einen Helm tragen.

Versuch einer Risikobilanz

Eine Helmpflicht, die die Menschen vom Radfahren abhält, hätte aber nicht nur negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit, sondern voraussichtlich auch auf das Gesundheitswesen. Denn Radfahren ist gesund, trotz des Unfallrisikos und der mitunter dreckigen Stadtluft, die Radfahrer einatmen müssen.

Forscher aus London und Utrecht versuchten, Nutzen und Risiken miteinander zu verrechnen. Das ist schwierig und mitunter auch umstritten, weil dabei unter Umständen die lebenslange Behinderung eines Kindes mit dem Herzinfarkttod eines Rentners in Beziehung zu setzen ist. Doch unterm Strich kommen all diese Studien zu einem erstaunlich eindeutigen Urteil: Körperliche Aktivität ist für den einzelnen, aber auch für die Gesellschaft ein großer Gewinn. Konkret auf das Radfahren bezogen überwiegen die individuellen Gesundheitsvorteile die Nachteile um etwa das Neunfache. Die Weltgesundheitsorganisation versuchte sogar, diesen Gesundheitsnutzen in Euro pro Fahrradkilometer auszudrücken und kam mit 86 Cent auf einen sehr stattlichen Betrag.

Gefühlter Schutz, aber wenig Studien

"Es entspricht dem Alltagswissen, dass das Risiko von Kopfverletzungen beim Fahrradfahren durch das Tragen eines Helms vermindert werden kann," heißt es in der Urteilsbegründung des OLG Schleswig. Auch Unfallchirurgen argumentieren in diese Richtung. Durch das Tragen eines Helms könnten viele Schädelbrüche und Gehirnblutungen verhindert oder zumindest gemindert werden. Doch für Käthi Diethelm, Vizepräsidentin des europäischen Radfahrerverbandes ECF, bleiben viele Fragen offen: "Dass ein Helm schützt, ist unbestritten, die Frage ist nur wie viel," sagt die Schweizerin mit Blick auf die dünne Studienlage.

So bleibt umstritten, welchen Beitrag Fahrradhelme oder gar eine Helmpflicht zur Verkehrssicherheit leisten könnten. Zumal Helme ja nie Unfälle vermeiden, sondern im besten Fall Unfallfolgen mindern. Sehr eindeutig hatte sich 2011 ein 30-köpfiges Expertengremium geäußert, dass den Bundesverkehrsminister beim neuen Radverkehrsplan beraten hat.

Helmkampagnen dürften "nicht dazu beitragen, die haftungsrechtliche Position der Radfahrer zu schwächen, eine Gefährlichkeit des Radfahrens zu exponieren, und vom Radfahren abzuhalten, denn Fahrpraxis schafft Sicherheit. Wir befürworten daher keine Helmpflicht und keine Warnwestenpflicht. Wir empfehlen jedoch insbesondere schnellen und ungeübten Radfahrern das Tragen von Fahrradhelmen zum Schutz vor Kopfverletzungen."

Die Sicherheit solle vielmehr durch Unfallvermeidung erhöht werden. Dabei spiele gegenseitige Rücksichtnahme eine zentrale Rolle. Thematisiert wird auch die mit 50 km/h möglicherweise zu hohe Regelgeschwindigkeit innerorts. Die Experten plädieren dafür, "dass die Verkehrssicherheit in der Abwägung gegenüber der Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs Vorrang" haben soll.