Pro Sterbehilfe "Palliativmedizin stößt an Grenzen"

Stand: 19.07.2012 00:35 Uhr

Schwerkranken, die selbst aus dem Leben scheiden möchten, muss geholfen werden, sagt der Mediziner Michael de Ridder. Allerdings in erster Linie durch Palliativmedizin oder die Versorgung in Hospizen. Erst danach könnte ein ärztlich assistierter Suizid ein allerletzter Ausweg sein.

Menschliches Leiden, zumal im Zustand aussichtsloser Erkrankung oder schwerster Versehrtheit, kann ein unerträgliches Ausmaß annehmen und in eine Suizidabsicht münden. Von der Suizidalität primär psychisch Kranker muss sie klar unterschieden werden.

Zur Person

Michael de Ridder ist Internist und Intensivmediziner und war lange Chefarzt der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Berlin. Derzeit leitet er eine Stiftung für Palliativmedizin und künftig das Vivantes-Hospiz in Berlin-Tempelhof. Er ist Autor des Buches "Wie wollen wir sterben?" (Foto: Siegfried Büker)

Als langjährig tätiger Internist und überzeugter Vertreter der Palliativmedizin würde ich in jedem Einzelfall zwar alles dafür tun, einen solchen Menschen vom Wert und der Reichweite der Palliativmedizin und hospizlicher Versorgungsangebote zu überzeugen. Doch auch in ihrer vollkommensten Ausprägung stoßen diese an Grenzen. Sei es, dass ihre Mittel versagen, sei es, dass ein Patient den Zeitpunkt seines Sterbens selbst bestimmen will. Nicht Staat und Kirchen, nicht Ärzteschaft und Hospizverbände haben in einem säkularen Gemeinwesen die Richtlinienkompetenz für das "gute Sterben". Vielmehr hat die - bei aller Bedeutung, die dem Dialog und der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patient, Arzt und Angehörigen beizumessen ist - letztlich allein der Sterbende selbst.

Dies um so mehr, als die Medizin im Laufe der letzten Jahrzehnte neben all ihren Errungenschaften beängstigende und grausame Existenzweisen hervorgebracht hat, in die Menschen ohne sie nie geraten wären. Beispielsweise beatmete Patienten mit hoher Querschnittslähmung wären früher eines natürlichen Todes gestorben. Unter ihnen lernen zwar nicht wenige, ihr Schicksal anzunehmen. Doch manche vermögen es trotz größtmöglicher menschlicher Zuwendung und bester medizinischer Versorgung nicht, sich neue Quellen des Lebenssinns zu erschließen.

Ähnliches gilt für Menschen im Endstadium einer Tumorerkrankung, die plausible Gründe vorbringen können, selbst aus dem Leben scheiden zu wollen - und zwar auf eine humane, ärztlich begleitete Weise. Ein Ansinnen, das ärztlicherseits zu erfüllen, kann nach meiner Auffassung nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten sein. Obwohl selbstverständlich kein Arzt zur Suizidbeilhilfe genötigt werden darf. Palliativmedizin und ärztliche Suizidassistenz schließen also einander nicht aus. Vielmehr verhalten sie sich so: Wenn das eine nicht greift, kann das andere eine letzte Möglichkeit sein.

Ein Drittel der Ärzte befürwortet ärztlich assistierte Sterbehilfe

Solchem Vorgehen hat die Bundesärztekammer im letzten Jahr auf dem Kieler Ärztetag einen Riegel vorgeschoben. Mit Zweidrittelmehrheit der Delegierten führte sie einen Entschluss herbei, der den Landesärztekammern nahe legt, den ärztlich assistierten Suizid zu verbieten. Obwohl ihr bekannt ist, dass ein Drittel der deutschen Ärzteschaft der Möglichkeit der ärztlichen Suizidassistenz offen gegenübersteht.

Ihr verstorbener Präsident, Prof. Dr. Hoppe, plädierte ausdrücklich für die individuelle ärztliche Gewissensfreiheit als oberste und letzte Instanz aller ärztlichen Behandlungsentscheidungen: "Suizidassistenz gehört nicht zu den ärztlichen Aufgaben. Sie soll aber möglich sein, wenn der Arzt das mit seinem Gewissen vereinbaren kann." Nicht zuletzt sollten derartige Richtungsentscheidungen der Ärzteschaft dem Wertepluralismus  - nicht allein ihrer selbst - vielmehr auch dem der Bürger unseres Landes gerecht werden. Deswegen kann und darf der Ärztetagsbeschluss nicht das letzte Wort gewesen sein.

"Wir brauchen ein ergebnisoffenes Beratungsangebot"

Wir brauchen zum einen den weiteren Ausbau palliativmedizinischer und hospizlicher Versorgung in unserem Land. Darüber hinaus brauchen wir nach dem Vorbild von "Pro Familia" für Menschen mit Suizidabsichten in schwerster Krankheit ein ergebnisoffenes Beratungsangebot. Dabei müssen die palliativmedizinischen Möglichkeiten zunächst ausgeschöpft werden. Dies schon allein deswegen, weil viele Patienten, die sich mit dem Wunsch nach ärztlicher Suizidbeihilfe an die schweizerischen Sterbehilfeorganisationen "Dignitas" oder "Exit" wenden, auf menschliche, friedliche und im Übrigen auch legale Weise hierzulande sterben könnten. Sie müssten nur zuvor über das ganze Spektrum palliativmedizinischer Möglichkeiten von ihren Ärzten in Deutschland umfassend aufgeklärt werden. Dies ist derzeit bedauerlicherweise allzu oft nicht der Fall.