Die Leiden der Opferfamilien "Warum?"

Stand: 23.02.2012 13:17 Uhr

Kann ein Gedenkakt das Leid der Opferfamilien abbilden und lindern? Jahrelang mussten sie mit der Unwissenheit, den Vorurteilen und dem Versagen der Ermittler leben. Neben Trauer herrscht auch Wut. Einige wurden krank darüber. Die Tochter eines Opfers will vorerst das Land verlassen.

Von Birgit Wentzien, ARD Berlin

Von Birgit Wentzien, SWR, ARD-Hauptstadtstudio

Der Sommer 2000 war wunderschön. Enver Simsek fährt mit seiner Frau und den beiden Kindern durch Deutschland. Ganze sechs Wochen lang. Eigentlich wollte der Blumengroßhändler aus dem südhessischen Schlüchtern in der Nähe von Fulda keinen Urlaub machen. Doch er gibt sich einen Ruck, die Kinder sollen das Land kennenlernen. Die Tochter Semiya ist 14 Jahre alt in diesem Sommer 2000. "Wir haben sehr viel zusammen unternommen. Wir sind überall hingereist. Diese letzten Sommerferien habe ich noch in guter Erinnerung: Das war die schönste Zeit für mich", erzählt sie.

Tochter eines der Opfer der Mordserie der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bei der Gedenkfeier

Semiya Simsek: Die Tochter eines der Opfer spricht auf der Gedenkfeier.

Das Opfer sprang nur kurzfristig ein

Am Mittag des 9. September 2000 steht Vater Enver an einem seiner mobilen Blumenstände hinter einem Tisch mit Schnittblumen. Er war eingesprungen für einen seiner Verkäufer, der erkrankt war. Acht Kugeln töten den Vater, der an diesem Tag ganz woanders sein wollte. Enver Simsek ist das erste Opfer der beispiellosen Mordserie. Für seine Familie beginnt ein Trauma.

"Ich konnte das nicht einmal jemanden erzählen, was mit meinem Papa wirklich passiert ist. Ich war schon Opfer und dann wurde ich noch abgestempelt", sagt Semiya über die damalige Zeit. Als Hauptverdächtige galten die Mutter und der Bruder. Die Polizei vermutete eine Familientragödie und ist über Wochen Dauergast im Haus.

"Dann hab ich sogar aufgehört, jemanden überhaupt etwas zu erzählen. Ich habe einfach gesagt: Es war ein Unfall. Er ist einfach so gestorben. Ich konnte das durch diese ganzen Vorurteile gar nicht mehr erzählen", erinnert sich die Tochter.

Witwe und Kinder verloren ihre Ehre

Die Familie des ermordeten Vaters ging auf Abstand zur Familie der Mutter. Bis heute. Mit Enver Simsek stirbt auch die Ehre der Witwe und der Kinder. Er selbst wurde verdächtigt, aus Holland Drogen geschmuggelt zu haben. Seine Freunde in Schlüchtern sagen dazu: "Wenn acht Deutsche gestorben wären, was wäre dann passiert? Ganz Deutschland wäre aufgestanden und hätte gefragt: Was ist los?"

Semiyas Mutter leidet an Depressionen und nimmt Medikamente. Der Bruder schweigt über das, was geschah. Die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen, Barbara John, steht mit allen Familien in Kontakt. Sie seien durch die Hölle gegangen. Elf Jahre lang durften Semiya, ihr Bruder und die Mutter nicht einmal Opfer sein. Und jetzt beginnt die Trauer von vorn. "Weil sie damals den Boden unter den Füßen verloren haben. Einige sind so krank, dass sie nicht einmal in der Lage sind, Formulare auszufüllen und Ansprüche zu stellen. Das sind dann die besonders harten Fälle", erklärt John.

"Ein Versagen der deutschen Gesellschaft"

Zur Trauer hinzu kommt der Zorn auf die Ermittler. Sie hielten über elf Jahre lang an dem Verdacht fest, die Opfer hätten sich die Morde selbst zuzuschreiben. "Wir sind diesen Menschen als Gesellschaft viel schuldig. Sie sind nur in diese Lage gekommen, weil hier versagt worden ist. Wir wissen ja, dass gerade bei den Familien nach dem Morden nur in eine Richtung ermittelt wurde: Nämlich in Richtung Ausländerkriminalität. Das zieht sich als Grundmuster durch alle neun Morde", sagt John dazu. "Das heißt, die Behörden, wie Verfassungsschutz und Polizei, mit ihren Tausenden, Zehntausenden von Leuten, sind an diesem Punkt hängengeblieben. Es ist ein Versagen der deutschen Gesellschaft. Das müssen wir selbstverständlich ändern, aber die Leute leiden jetzt darunter."

Die Tochter will in die Türkei auswandern

Semiya Simsek wird Deutschland im Sommer verlassen - das Land, in dem sie geboren wurde, ihre Heimat. Leben will sie in der Türkei, ein für sie fremdes Land. Wenigstens eine Zeit lang. Zurückkommen will sie als Nebenklägerin im Verfahren gegen die mutmaßliche Neo-Nazi-Mörderin Beate Zschäpe. "Eines sollen die Neonazis wissen: Dass ich in die Türkei gehe, heißt nicht, dass ich nicht zu Deutschland gehöre." Und fragen will sie Beate Zschäpe: "Warum habt ihr das getan?"