Rechtsextreme Terrorserie Das Netzwerk des NSU

Stand: 10.10.2012 16:02 Uhr

Im März soll nach Informationen von tagesschau.de der Prozess um die NSU-Terrorserie beginnen. Angesichts von 100 Personen, die derzeit zum NSU-Netzwerk gezählt werden, dürfte es ein umfangreiches Verfahren geben. Die Opferfamilien erwarten endlich Antworten; ihre Anwälte meinen, vor Gericht werde noch einiges aufgeklärt.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Von einem "Terror-Trio" kann schon lange keine Rede mehr sein, denn eine bundesweite Mord- und Anschlagsserie sowie ein jahrelanges Leben in der Illegalität lässt sich nicht zu Dritt organisieren. Doch wie weit das Netzwerk hinter dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) reicht, überrascht doch: Die "taz" berichtet nun sogar von einer "Hundertschaft". Die Zeitung beruft sich auf eine geheime Liste der Sicherheitsbehörden, auf der exakt 100 Personen zum NSU, den Unterstützern oder dem dazugehörigen Netzwerk gezählt werden.

Auf der Liste stehen laut "taz" neben Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe die zwölf in dem Verfahren von der Bundesanwaltschaft beschuldigten mutmaßlichen Helfer sowie 85 weitere angebliche Kontaktpersonen des NSU oder von dessen engsten Unterstützern. Bisher war die Zahl der "relevanten Personen" im NSU-Umfeld auf 40 beziffert worden.

NPD-Funktionäre auf der Liste

Auf der Liste tauchen demnach zahlreiche Namen auf, die in den Medien bereits im Zusammenhang mit dem NSU und dessen Unterstützern genannt wurden, beispielsweise ehemalige Weggefährten aus dem "Thüringer Heimatschutz" (THS) sowie dem in Deutschland verbotenen Blood-and-Honour-Netzwerk. Auch ehemalige und aktuelle Funktionäre der NPD werden laut "taz" aufgeführt.

Darunter sind neben dem in Untersuchungshaft sitzenden ehemaligen Thüringer NPD-Landesvize Ralf Wohlleben auch NPD-Vize Frank Schwerdt und Patrick Wieschke. Beide bestreiten aber, nach dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe noch Kontakt zu diesen gehabt zu haben.

"Politischer Ziehvater"

Allerdings gilt Schwerdt als Weggefährte Wohllebens. Das ehemalige Vorstandsmitglied der NPD-Jena, Uwe Luthardt, sagte im Gespräch mit tagesschau.de, Schwerdt sei der "politische Ziehvater" des mutmaßlichen NSU-Unterstützers gewesen. Auch dass der NSU aus dem Thüringer Heimatschutz (THS) hervorging, spricht eher dafür, dass neben Wohlleben weitere NPDler von den Untergetauchten gewusst haben könnten. "Das Verhältnis der NPD zu den Kameradschaften insbesondere zum THS kann ich als sehr innig bezeichnen", betonte Ex-NPDler Luthardt.

Auf der Liste zu finden sind auch der mecklenburg-vorpommersche NPD-Landtagsabgeordnete David Petereit, bei dem bei einer Durchsuchung ein Brief des NSU an potenzielle Unterstützer gefunden wurde, und der ehemalige NPD-Bundesvize Hans Günter Eisenecker, der im Jahr 2003 verstarb. Eisenecker soll als Anwalt Zschäpes aufgetreten sein.

V-Leute im NSU-Netzwerk

Auf der Liste der relevanten Personen im NSU-Umfeld werden laut "taz" fünf langjährige V-Leute von Polizei und Verfassungsschutz aufgeführt, darunter der ehemalige Chef des Thüringer Heimatschutzes, Tino Brandt, der Ex-Blood-and-Honour-Aktivist sowie NSU-Sprengstofflieferant Thomas S. und der einflussreiche Neonaziaktivist Thomas R. aus Sachsen-Anhalt. Allerdings erscheint eine Quote von fünf Prozent noch relativ gering, beim THS soll fast ein Drittel der Kader Informationen an den Geheimdienst verkauft haben. Es erscheint also durchaus möglich, dass weitere Verbindungen zwischen staatlichen Stellen und NSU-Umfeld bekannt werden.

Zuletzt hatte der Verdacht für Aufsehen gesorgt, der inhaftierte Wohlleben könnte Informationen an Geheimdienste verkauft haben. Das Innenministerium ging der Sache nach und fand nach eigener Darstellung keine entsprechenden Hinweise. Die Sache sei aber noch nicht gelöst, sagte der Vorsitzende des NSU-Ausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy, der dpa. Es sei "nicht unwahrscheinlich, dass das Gremium die Sache selbst untersucht".

"Strafverteidiger geübter als Parlamentarier"

Wohlleben wurde vor wenigen Tagen aus Thüringen nach München verlegt. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass der NSU-Prozess wie vermutet vor dem dortigen Oberlandesgericht stattfinden wird, bestätigt ist dies aber nicht. Nach Informationen von tagesschau.de soll aber noch bis Ende des Jahres Anklage erhoben werden, der Prozess dann im März 2013 beginnen.

Das Gerichtsverfahren dürfte umfangreich werden, angesichts der Morde und Anschläge der Neonazi-Terrorgruppe gibt es Dutzende Nebenkläger. Der Hamburger Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des in Kassel ermordeten Halit Yozgat als Nebenkläger vertritt, betonte gegenüber tagesschau.de, die Erwartungen der Hinterbliebenen an den Prozess seien hoch. Die Aufarbeitung des Verbrechens sei eine Belastung für die Familie, aber sie hätten auch Hoffnung. Bei dem Prozess gehe es um die "vollständige Aufklärung", insbesondere um die Rolle der staatlichen Stellen.

Bliwier hatte neben anderen Rechtsanwälten Strafanzeige gestellt, nachdem bekannt wurde, dass beim Verfassungsschutz Akten geschreddert worden waren. Der Anwalt meint, dass der Prozess noch einiges ans Tageslicht bringen wird. "Strafverteidiger sind geübter in der Befragung und frei von Parteiinteressen", so Bliwier im Hinblick auf die Zeugenvernehmungen in den parlamentarischen NSU-Ausschüssen. Ähnlich äußerte sich die Rechtsanwältin Angela Wierig, die die Schwester des in Hamburg vom NSU ermordeten Süleyman Tasköprü als Nebenklägerin vertritt. Auch sie betonte im Gespräch mit tagesschau.de die Erwartung der Angehörigen, dass es Antworten auf die vielen offenen Fragen rund um die Terrorserie und die Rolle der staatlichen Stellen gebe.

Derweil versuchen die parlamentarischen Ausschüsse, weiter den NSU-Skandal aufzuarbeiten. Angesichts der Fülle des Materials stoßen die Abgeordneten aber an ihre Grenzen. Der Ausschuss des Bundestags sei überlastet, mahnte der Vorsitzende Edathy im Deutschlandradio Kultur. Schuld daran sei die jüngste Aktenlieferung aus Thüringen. Es könne nicht sein, dass das Land alle Akten ohne Vorsortierung an den Ausschuss schicke.

K. Frenzel, DLR, 10.10.2012 07:50 Uhr

"Ablenkungsmanöver"

Für den Inlandsgeheimdienst in Thüringen soll die Pleiteserie nun Konsequenzen haben. Das Landesamt soll als eigenständige Behörde aufgelöst und ins Innenministerium integriert werden, wie es in anderen Ländern bereits der Fall ist.

Für die Linkspartei ein Ablenkungsmanöver. Man wolle suggerieren, dass ein Geheimdienst aufgelöst wird, ihn qualitativ aber fortbestehen lassen, kommentierte Martina Renner, die in Erfurt im NSU-Ausschuss sitzt und sich seit Jahren mit der rechtsextremen Szene beschäftigt. "Eine Abteilung in einem Innenministerium ist als Geheimdienst weniger erkennbar", kritisiert sie, diese unterscheide "sich aber in der Arbeitsweise überhaupt nicht von einem als eigenständige Behörde organisierten Dienst".

Die Aufarbeitung der Terrorserie ist also noch längst nicht am Ende. Im Gegenteil: Angesichts eines mutmaßlichen Netzwerks von bis zu 100 Neonazis rund um die Terrorzelle erscheint es immer unverständlicher, wieso die Rechtsterroristen jahrelang ungestört morden konnten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandradio Kultur am 10. Oktober um 07:50 Uhr