Zwischenbilanz NSU-Ausschüsse "Viele Fragen sind noch offen"

Stand: 24.07.2012 17:33 Uhr

Vier Ausschüsse untersuchen die Versäumnisse bei den Ermittlungen zur NSU-Terrorserie. Während in Bayern die Arbeit erst anfängt, wurden in Sachsen, Thüringen und im Bundestag bereits viele Zeugen vernommen. Dennoch seien noch viele Fragen offen, sagt der Ausschussvorsitzende Edathy.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Mehrere Zeugen aus Bayern hätten vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags so einen "Schmarrn" erzählt, dass seiner Fraktion aufging: Auch im Freistaat sei ein solches Gremium nötig. Nun ist Franz Schindler von der SPD Vorsitzender des "Untersuchungsausschusses Rechtsterrorismus in Bayern - NSU". Er gilt als Kenner der rechtsextremen Szene.

In Schwandorf, wo Schindler sein Bürgerbüro hat, verübte ein Neonazi 1988 einen Brandanschlag. Ein türkisches Ehepaar, dessen zwölfjähriger Sohn und ein 47-jähriger Deutscher starben. In der großen Öffentlichkeit ist diese Tat so gut wie vergessen, in Schwandorf gedenken Bürger alljährlich der Opfer. "Das Problem Rechtsextremismus wird in Bayern schon lange verharmlost", so Schindler, "speziell vom Innenministerium".

Mit dem Gremium in Bayern arbeiten nun vier Ausschüsse das Versagen der Behörden bei der Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds auf. Im Freistaat fängt die Arbeit erst an. Anfang Juli konstituierte sich der Ausschuss, nach der Sommerpause wollen die Parlamentarier zunächst die Aktivitäten von Neonazis im Land analysieren und die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden bewerten. "Allein dass es fünf Morde in Bayern gab, rechtfertigt schon einen Untersuchungsausschuss", betont Schindler gegenüber tagesschau.de.

Auch der Umgang mit den Angehörigen werde thematisiert. "Eine Schande für das Land ist das" schimpft er, wie die Hinterbliebenen behandelt worden seien. "Die Polizei geht offenbar anders mit Ausländern um als mit Deutschen."

"Unerklärlich"

Die Rolle von Ex-Innenminister Günther Beckstein, der eine Übernahme der Mordserie durch das Bundeskriminalamt verhindert hatte, wird ebenfalls Thema sein. Beckstein hatte vor dem Bundestagsausschuss betont, es sei richtig gewesen, die Fälle nicht an das BKA abzugeben. Er bezweifele bis heute, ob 20 BKA-Beamte die Ermittlungen besser geführt hätten als insgesamt 200 Landesbeamte.

"Unerklärlich ist mir, warum man bei einer bundesweiten Mordserie eine dezentrale Ermittlungsarbeit zugelassen hat", meint dazu Sebastian Edathy. Der Vorsitzende des NSU-Bundestagsausschusses betont aber gegenüber tagesschau.de, man sei "bei der Aufarbeitung der Versäumnisse der deutschen Sicherheitsbehörden auf einem guten Weg". Es werde zunehmend deutlich, dass "unsere Sicherheitsarchitektur keineswegs optimal ist". Konkret nennt der SPD-Politiker die Kooperation zwischen Polizei und Verfassungsschutz, aber auch zwischen den Verfassungsschutz-Ämtern.

Thüringer Verhältnisse

Gemeint sein dürfte hier vor allem Thüringen. Mit einem Chaos beim Geheimdienst ist dort der Untersuchungsausschuss konfrontiert. Besonders in der Kritik: Ex-Chef Helmut Roewer, dem bereits in einem geheimen Bericht im Jahr 2000 krasses Fehlverhalten vorgeworfen wurde. Der Rechtsanwalt und spätere Landesinnenminister Karl Heinz Gasser (CDU) schreibt darin, das Landesamt sei durch Grabenkämpfe und strukturelles Chaos teilweise handlungsunfähig gewesen, das Referat für den Rechtsextremismus existierte nur noch auf dem Papier.

Außer Kontrolle war auch die Außendarstellung des Geheimdienstes. So gründete Roewer unter dem Namen Dr. Stephan Seeberg eine Verlagsgesellschaft, eine Tarnfirma, in der er selbst publizierte und "Aufklärungsvideos" produzieren ließ, die militante Rechtsextremisten als politische Idealisten darstellten. Jüngster Streich des ehemaligen obersten Geheimdienstlers in Thüringen: Voraussichtlich zur Frankfurter Buchmesse will Roewer Tagebuchaufzeichnungen veröffentlichen und mit einer "labilen Polizeistruktur" in den 1990er Jahren abrechnen. "Altlasten und unfähige Westimporte lieferten sich erbitterte Auseinandersetzungen, anstatt ihren gesetzlichen Aufgaben nachzukommen", heißt es in dem Klappentext des Werks, das Roewer angeblich bei einem rechtsradikalen Verlag veröffentlichen will. Bemerkenswert, dass Roewer nun Details ausbreiten will, denn bei seinem Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss antwortete er immer wieder auf Fragen der Abgeordneten: "Das erinnere ich nicht."

Doch auch nach Roewers Suspendierung im Jahr 2000 gingen die zweifelhaften Vorgänge weiter. Die "Operation Rennsteig" von Militärischem Abschirmdienst (MAD), Bundesamt und Landesamt für Verfassungsschutz beschäftigt den Thüringer Untersuchungsausschuss -  genau wie die Nachfolgeoperation "Zafira". Wie nah war der Verfassungsschutz an den NSU-Strukturen? - so lautet eine der zentralen Fragen.

Das Ende der Landesämter?

Die desaströsen Fehleinschätzungen zur Bedrohung durch Neonazis werden für den Geheimdienst möglicherweise weitreichende Konsequenzen haben. Drei führende Verfassungsschützer mussten bereits gehen. Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) schlägt zudem vor, das Thüringer Amt mit denen anderer Länder zu fusionieren. Zudem solle nur noch das Bundesamt V-Männer führen.

Eine Variante, die Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) durchaus als diskussionswürdig einstuft; kurz zuvor hatte sein Innenminister Markus Ulbig (CDU) solche Gedankenspiele noch zurückgewiesen. Doch die Tatsache, dass die NSU-Terroristen von Sachsen aus ihre Morde und Überfälle planten, ohne dass Polizei oder Verfassungsschutz dagegen etwas unternahmen, setzt die Regierung in Dresden unter Druck. Nach Thüringen räumt auch in Sachsen der oberste Verfassungsschützer wegen der Versäumnisse sein Amt.

"Nach außen zeigt die sächsische Regierung Betroffenheit zu den Schlampereien im Verfassungsschutz", sagt Miro Jennerjahn im Gespräch mit tagesschau.de, aber real werde die Aufklärung torpediert. Jennerjahn sitzt für die Grünen im sächsischen Untersuchungsausschuss. "Die Arbeit ist zäh", meint er, denn im Gegensatz zum Bundestag oder Thüringen sei das Gremium in Sachsen nicht durch einen Konsens der demokratischen Parteien beschlossen worden.

Nach der Sommerpause wird das Gremium beispielsweise untersuchen, warum Beate Zschäpe an dem Tag, an dem sie die Wohnung in Zwickau in die Luft jagte, laut Protokollen von einem Mobiltelefon, das auf das sächsische Innenministerium zugelassen ist, angerufen wurde. Die Opposition fürchtet, der Kontakt zwischen Geheimdienst und NSU sei enger gewesen als bislang bekannt.

Neue Nahrung erhielten entsprechende Spekulationen durch die Schredder-Affäre beim Verfassungsschutz, die nun auch Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) weiter in die Kritik brachte.

Blick nach Hessen

Es seien noch viele Fragen offen, betont der Ausschussvorsitzende Edathy. So sei beispielsweise zu klären, "ob in Hessen die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Billigung des damaligen Landesinnenministers behindert worden ist". Am 11. September muss dazu ein Ex-Mitarbeiter des Verfassungsschutzes die Fragen der Abgeordneten beantworten. Andreas T. war 2006, als der NSU in Kassel einen Mann erschoss, am Tatort. Zufall, beteuert T. im ARD-Politmagazin Panorama. Doch die Spekulationen über seine Person gehen weiter, da T. von dem Mord in dem Internet-Cafe nichts gemerkt haben will und sich nach dem Anschlag nicht als Zeuge gemeldet hatte. Zudem führte T. einen rechtsextremen V-Mann aus der hessischen Neonazi-Szene.

Bei den anschließenden Ermittlungen musste T. zu dem V-Mann nicht aussagen, weil er vom damaligen Innenminister keine Genehmigung erhielt. Volker Bouffier ist mittlerweile zum Ministerpräsidenten aufgestiegen, Ende September wird auch er vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen müssen. Die Sisyphusarbeit geht weiter.