Fahrgäste verlassen und besteigen an der Haltestelle Landungsbrücken die U-Bahn in Hamburg

Neun-Euro-Ticket im Nahverkehr Nutzer jubeln, Verkehrsbetriebe bangen

Stand: 04.05.2022 11:10 Uhr

Das Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr soll die Bürger angesichts steigender Energiepreise entlasten. Gute Idee, finden die ÖPNV-Nutzer, doch die Verkehrsunternehmen sind überrumpelt - und die Länder sorgen sich um die Kosten.

Von Fabian Janssen, SWR

Günstig, umweltfreundlich, attraktiv: Das von der Regierung geplante Neun-Euro-Ticket soll dem bundesweiten Nahverkehr ordentlich Auftrieb verleihen. Darauf hofft zumindest Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Er will die Bürgerinnen und Bürger mit dem günstigen ÖPNV-Ticket angesichts stark gestiegener Energiekosten entlasten.

Laut Wissing soll das Ticket zudem Anreize zum Energiesparen setzen und die Nutzung des ÖPNV langfristig attraktiver machen. Heißt: neben Entlastungen setzt man auch darauf, dass Menschen vom Auto auf Busse und Bahnen umsteigen. Das spontan eingeführte Ticket soll nachhaltig etwas verändern. Doch kann es tatsächlich langfristig halten was es verspricht?

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ÖPNV-Nutzung für neun Euro pro Monat

Das sogenannte 9 für 90-Ticket oder Neun-Euro-Ticket soll am 1. Juni 2022 eingeführt werden. Fahrgäste können damit drei Monate lang für je neun Euro den ÖPNV nutzen. Das Ticket soll an Schaltern und Automaten, sowie einer Online-Plattform zur digitalen Buchung erhältlich sein.

Kunden, die bereits bestehende Abos haben, werden über den Differenzbetrag in den Folgemonaten ausgeglichen. An einer Lösung für Semester- oder Jobtickets wird ebenfalls gearbeitet. Das Ticket soll deutschlandweit in Bussen und Bahnen im Nah- und Regionalverkehr gelten. Ausgenommen sind der Fernverkehr, sowie Flix-Busse und -Züge.

Schnelle Entlastung für Bürgerinnen und Bürger

Drei Euro kostet ein einfaches Ticket für Bus und Bahn beispielsweise im Mainzer Stadtgebiet. Von Mainz nach Frankfurt sind es fast neun Euro. Der ÖPNV kann ordentlich ins Geld gehen. Deshalb freuen sich schon viele auf das Neun-Euro-Ticket.

"Ich finde das super. Ich hoffe das kommt. Von der Idee her finde ich es genau richtig, weil es ja seit Jahren heißt, der ÖPNV muss günstiger werden", sagt Alexandra Reinbrecht. "Schade, dass es eine Energiekrise ist, die dazu führt." Die Berufseinsteigerin hat nun kein Semesterticket mehr und freut sich über die kostengünstige Alternative, gerade weil sie kein Auto hat.

Auch Mamdouh Saeed ist begeistert von dem Ticket: "Mein Monatsticket kostet 90 Euro, ich fahre jeden Tag mit der Straßenbahn zur Arbeit. Für mich wird das eine große finanzielle Entlastung", sagt er vor dem Mainzer Hauptbahnhof.

Verkehrsbetriebe wurden überrumpelt

Die Mainzer Verkehrsbetriebe hätten sich gewünscht, dass die Ankündigung des Tickets mit etwas mehr Vorlauf geschehen wäre. Hier arbeitet man jetzt an der Umsetzung, auch wenn eine gewisse Restunsicherheit bleibt, ob das Ticket wirklich eingeführt wird. Die finale Entscheidung fällt am 20. Mai im Bundesrat, wenn über die Finanzierung abgestimmt wird.

Ein "Point of no return" sei aber schon jetzt erreicht, denn in allen Verkehrsverbänden muss das neue Angebot eingebaut werden. In Mainz soll der Vorverkauf bereits am 23. Mai starten, wenn der Bundesrat positiv entscheidet. Hier hofft man, dass die Finanzierung genauso reibungslos läuft wie beim Rettungsschirm während der Corona-Pandemie.

2,5 Milliarden Euro Verlust befürchtet

Die Prognosen der Länder und Verkehrsverbände gehen von 2,5 Milliarden Euro Verlust durch Ticketmindereinnahmen aus. Diese sollen vollständig vom Bund übernommen werden. "Der Bund übernimmt die vollen Kosten für das '9 für 90-Ticket'", sagt Wissing. Zusätzlich könnten die Länder die neun Euro vereinnahmen. Mit anderen Worten: Der Bund zahlt drei Monate lang sämtliche ÖPNV-Kosten und schenkt den Ländern noch obendrein die neun Euro pro verkauftem Ticket.

Doch der Branchenverband VDV warnt, dass die 2,5 Milliarden nur eine Prognose seien. "Wenn viel mehr Fahrgäste kommen, als prognostiziert und der Einnahmeverlust liegt dann am Ende zum Beispiel bei 2,75 Milliarden, dann müssen auch diese zusätzlich fehlenden Mittel ausgeglichen werden", sagt Lars Wagner vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

VDV befürchtet Einschränkungen wegen Energiekrise

Die größte Unsicherheit bei den Verkehrsunternehmen herrscht allerdings aktuell in Sachen Energiekosten. Nicht nur die Verbraucher leiden unter den durch den Ukraine-Krieg stark gestiegenen Kraftstoff- und Heizkosten, auch der ÖPNV. Hier sieht der VDV große unmittelbare Liquiditätsprobleme für die Unternehmen, denn dieses Geld fehle bereits in den Kassen der Betriebe.

Diese fahren nicht gewinn-, sondern gemeinwohlorientiert, seien daher durch öffentliche Gelder mitfinanziert und haben oft keinen Puffer zur Zwischenfinanzierung. "Gerade bei den kleineren Unternehmen schlagen die steigenden Energiekosten extrem zu Buche und da geht es am Ende darum, können sie den Betrieb noch aufrechterhalten oder nicht? Weil sie sich den Diesel nicht mehr leisten können", sagt Wagner. Im Schlimmsten Falle bedeute das, das mitten in der Hauptphase des Neun-Euro-Tickets das Bus- und Bahnangebot eingeschränkt werden müsse.

Länder tragen das finanzielles Risiko

Auch beim Land Rheinland-Pfalz sind die Befürchtungen groß, dass auf Rheinland-Pfalz Kosten zukommen, die nicht zu stemmen sind, schreibt das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität auf Nachfrage. Der Bund habe keine Nachschusspflicht, sollte die Pauschal-Summe überschritten werden.

Die Länder tragen also das Risiko eines Versprechens des Bundes. Außerdem müssen die gestiegenen Bau-, Energie- und Personalkosten gedeckt werden. Es werde ein Zuschlag von 1,5 Milliarden Euro benötigt, denn es müsste unbedingt vermieden werden, dass nach der Rabattaktion die Nahverkehrstarife angehoben werden müssen, so das Ministerium.

Ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn steigt aus einem abgestellten Zug aus.

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"Zeichen des guten Willens, mehr aber nicht"

Natürlich haben die Verkehrsverbünde die Hoffnung, dass einige Neukunden auch nach den drei billigen Monaten bei Bus und Bahn bleiben, Modellversuche allerdings zeigen, dass eher ein gutes Streckenangebot und gute Anbindungen neue Nutzer in den ÖPNV locken und weniger der Preis der Tickets.

Der Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sieht das Neun-Euro-Ticket als nicht sehr erfolgsversprechend an. "Es ist ein gutes Signal sich mit dem ÖPNV zu beschäftigen und eine Entlastung anzubieten. Da hört es aber schon auf. Die tatsächliche Form ist nicht gut. Es ist ein Zeichen des guten Willens, mehr aber nicht", sagt Knie.

Er hätte sich gewünscht, das Ganze wäre strategischer angegangen worden: Die zurückgewinnen, die man durch Corona verloren hat und den Fernverkehr mit einbinden. "Denn die Umsteigewilligen sind eher im Fernverkehr. Hier kriegen wir viel mehr Menschen von der Straße auf die Schiene. Für Autofahrer sind drei Monate viel zu kurz."

Das Auto sei die letzten Jahrzehnte immer bevorzugt worden. Dadurch habe sich kulturell der öffentliche Nahverkehr nicht gefestigt. "Das fällt uns jetzt mit Karacho auf die Füße, und das ist so schnell auch nicht zu machen." Auch Knie betont, dass das der Netzausbau entscheidend ist. "Der Preis ist nicht allein entscheidend, sondern die fehlende Flexibilität. Ich brauche ein flexibles und durchdigitalisiertes Angebot."

Großer Feldversuch - Ausgang ungewiss

Das Neun-Euro-Ticket weckt Hoffnung auf Entlastung und darauf, den ÖPNV etwas beliebter zu machen. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die Verkehrsbetriebe für drei Monate ihre Flotte vergrößern. Und mit überfüllten Bussen in Zeiten der Pandemie überzeugt man Autofahrer wohl nicht davon, dauerhaft umzusteigen.

Philipp Eckstein, Philipp Eckstein, ARD Berlin, 04.05.2022 09:29 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 04. Mai 2022 um 07:53 Uhr.