Interview

Interview zum Runden Tisch gegen Missbrauch "Die Arbeit für die Opfer bleibt auf der Strecke"

Stand: 01.12.2010 13:11 Uhr

Die Bundesregierung feiert es als Erfolg: Vertreter aus Regierung, Politik und Gesellschaft beraten seit einem halben Jahr am Runden Tisch gegen sexuellem Missbrauch - nun wurde eine Zwischenbilanz gezogen. Viele Opferverbände allerdings bleiben außen vor. Nur eines von vielen Versäumnissen, meint Thomas Schlingmann von der Berliner Beratungsstelle "Tauwetter". Im Interview mit tagesschau.de geht er mit dem Runden Tisch hart ins Gericht.

tagesschau.de: Sie sitzen mit am Runden Tisch und sind dort einer der wenigen Vertreter der lokalen Beratungsstellen. Wie lautet Ihre persönliche Zwischenbilanz?

Thomas Schlingmann: Das Ergebnis ist bisher mehr als mager. Immer mehr Opfer in Deutschland suchen Unterstützung, es gibt einen wachsenden Beratungsbedarf. Dies wird überhaupt nicht abgefedert - im Gegenteil: Es gibt eine ganze Reihe von unabhängigen Beratungsstellen, die auch in diesem Jahr wieder um ihre Existenz kämpfen müssen. Am Runden Tisch wird viel geredet, die Arbeit für die Opfer bleibt dabei aber auf der Strecke.

Stichwort

Rund 60 Teilnehmer sind der Einladung von Familienministerin Kristina Schröder, Bildungsministerin Annette Schavan und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gefolgt. Die Ministerinnen übernehmen gemeinsam den Vorsitz des Gremiums. Hinzu kommen weitere Politiker, Juristen, Mediziner, Psychologen sowie Vertreter von Kirchen, Internaten, Sportvereinen sowie Opfer- und Lehrerorganisationen.

tagesschau.de: Der Runde Tisch will die Debatte zum Thema Missbrauch in Gang bringen, das Schweigen brechen und die Opfer stärken. Ist das gelungen?

Schlingmann: In der Tat wird endlich über Missbrauch geredet. Das haben wir im Wesentlichen den Männern aus katholischen Einrichtungen zu verdanken, die mit ihren Geschichten und ihrem Leid an die Öffentlichkeit gegangen sind. So wurde bekannt, was sich in verschiedenen Einrichtungen zugetragen hat. Dadurch verstehen immer mehr Betroffene, dass dies auch anderen Männern passiert ist und trauen sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das ist ein großer Erfolg. Aber diesen Erfolg haben wir nicht dem Runden Tisch zu verdanken. Der ist eine Folge davon.

Zur Person

Thomas Schlingmann ist langjähriger Mitarbeiter der Berliner Beratungsstelle "Tauwetter" für Männer und Jungen, die missbraucht wurden. Neben seiner Beratungsarbeit hat er zahlreiche Artikel zum Thema Missbrauch und Gewalt veröffentlicht. Er sitzt in einer Arbeitsgruppe zum Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch.

tagesschau.de: Kann denn mittlerweile über sexuellen Missbrauch offen diskutiert werden?

Schlingmann: Nein, wir erleben im Gegenteil, dass sich neue Tabus bilden. Derzeit fokussiert sich die öffentliche Debatte auf das Thema Pädophilie. Missbrauch und Gewalt in der Familie oder dem engen Freundeskreis und die Verflechtung von Machtmissbrauch und Sexualität wird in der Diskussion zurückgedrängt. Immer noch tabuisiert wird außerdem das Thema Missbrauch durch Frauen. Jeder vierte Mann, der zu uns in die Beratung kommt, berichtet von Missbrauch oder Misshandlungen durch Frauen. In der öffentlichen Diskussion spielt das allerdings kaum eine Rolle.

Für die Opfer muss mehr getan werden

tagesschau.de: Der Runde Tisch will die Rechte der Opfer stärken. Wird genug getan?

Schlingmann: Nein. Wir brauchen einige Gesetzesänderungen. Die Verjährungsfrist muss weg, also die Tatsache, dass Opfer keine Möglichkeit haben, einen Täter anzuzeigen, wenn der Fall lange zurück liegt. Und wir brauchen ein "Scheidungsrecht" für Kinder gegenüber ihren Eltern. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass ein 17-jähriger Jugendlicher nach jahrelangem Missbrauch auszieht - und später, im Fall längerer Arbeitslosigkeit und Hartz IV, wieder bei seinen Eltern wohnen muss - es sei denn, er dokumentiert gegenüber dem Arbeitsamt, dass er missbraucht wurde.

Betroffene ernst nehmen

tagesschau.de: Viele Opferorganisationen sitzen nicht mit am Tisch, ist auch dies ein Grund dafür, dass es an sichtbaren Erfolgen fehlt?

Schlingmann: Die Zusammensetzung des Runden Tischs ist eine wesentliche Ursache für die mageren Ergebnisse. Wir fordern zum Beispiel ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen. Aber das ist am Runden Tisch nicht durchsetzbar. Es wird mit Geldnot argumentiert. Bund, Länder und Kommunen schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Das wäre mit Sicherheit anders, wenn mehr Opferorganisationen mit am Tisch säßen.

tagesschau.de: Was fordern, was wünschen Sie sich vom Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch?

Schlingmann: Ganz wichtig wäre, die Betroffenen endlich als Experten zu akzeptieren, sie mit an den Tisch zu holen und auf Augenhöhe in die Debatte einzubeziehen. Die Beratungsstellen müssen ausreichend finanziert werden. Es reicht nicht, jede Beratung und Therapie als Einzelfall mit den Krankenkassen abzurechnen. Wir brauchen einen finanziellen Grundstock für die Beratungs- und Aufklärungsarbeit. Nur dann ist eine gute und oft eben anonyme Beratung für die Opfer gewährleistet.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de