Jeder Fünfte nimmt Anspruch nicht wahr Der Staat spart, weil Arme verzichten

Stand: 18.10.2006 18:19 Uhr

Geahnt und gemahnt hatten Experten es schon länger. Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung lieferte 2006 den Beweis: Die Dunkelziffer armer Menschen in Deutschland ist weit höher als gedacht. Der Grund: Viele verzichten auf staatliche Hilfen, obwohl sie ihnen zustehen.

In Deutschland leben einer Studie zufolge mehr Menschen in Armut als bislang angenommen. Millionen von Bedürftigen in Deutschland verzichten laut einer Studie der Frankfurter Verteilungsforscherin Irene Becker für die Hans-Böckler-Stiftung auf ihren Anspruch auf staatliche Hilfen. Darunter sind knapp zwei Millionen Erwerbstätige, die ihren geringen Verdienst nicht aufstocken lassen, obwohl das möglich wäre.

Statistik verrät nur "halbe Wahrheit"

Nach Angaben der gewerkschaftsnahen Stiftung erhalten nur 7,4 Millionen von mehr als 10 Millionen Menschen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld tatsächlich Hartz-IV-Leistungen. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit verrate deshalb nur "die halbe Wahrheit über Hilfebedürftige in Deutschland", sagte Becker: "Sie leben in verdeckter Armut - und mit ihnen etwa eine Million Kinder". Die Frankfurter Verteilungsforscherin hatte für die Untersuchung das Ausmaß der Bedürftigkeit 2004 - also kurz vor der Hartz-IV-Reform - geschätzt und mit aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) verglichen.

Eigenständigkeit wichtiger als wirtschaftliches Kalkül

Betroffen seien vor allem Geringqualifizierte, Teilzeitbeschäftigte, die keine Stelle finden, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern. 1,5 Millionen Haushalte schütze auch ein Vollzeiteinkommen nicht vor Bedürftigkeit. Laut Becker stehen die Ergebnisse der Studie in "auffallendem Kontrast" zu Thesen über negative Arbeitsanreize der staatlichen Grundsicherungszahlungen. Offenbar scheine breiten Schichten das Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Anerkennung und längerfristigen Lebensperspektiven wichtiger zu sein als das kurzfristige wirtschaftliche Kalkül, erklärte sie. Nicht Leistungsmissbrauch sei verbreitet, sondern Arbeit trotz Mini-Einkommen.