30 Jahre Deutscher Herbst: Die Linke und die RAF Zwischen Solidarität und Abrechnung

Stand: 19.10.2007 01:15 Uhr

Vor 30 Jahren wurde die Leiche des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos im elsässischen Mülhausen gefunden - einer der traurigen Höhepunkte des Deutschen Herbstes. Der Terror der RAF ist für deutsche Linke bis heute ein schweres Erbe - das viele nur zu gerne ausgeschlagen hätten. So wollen ehemalige Aktivisten nichts mehr von dieser Zeit wissen, distanzierten sich scharf. Nur noch Wenige beschwören die "Solidarität mit den politischen Gefangenen". Für die Jüngeren scheint die RAF überhaupt kein Thema mehr zu sein.

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Im September 1977 entführten RAF-Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, am 19. Oktober 1977 - gestern vor 30 Jahren - ermordeten sie ihn. Die Rote Armee Fraktion bekannte sich in einem Schreiben mit folgenden Worten: "Nach 43 Tagen haben wir der elenden und korrumpierten Existenz Martin Schleyers ein Ende gesetzt." Als prominenter Wirtschaftsvertreter sowie Ex-SS-Mitglied war er zur Zielscheibe geworden. Und ein gewisser Teil der linken Öffentlichkeit hatte – wie in den Jahren zuvor und auch danach - durchaus mit der RAF oder zumindest deren Umfeld sympathisiert; gewiss nicht mit den Methoden, aber mit den Zielen konnten bekannte Intellektuelle, Journalisten und andere Persönlichkeiten aus dem linksbürgerlichen Spektrum durchaus etwas anfangen. Doch davon ist nicht viel übrig geblieben.

Im Gegenteil, meint der ehemalige hessische Justizminister Rupert von Plottnitz gegenüber tagesschau.de. Er habe in zahlreichen Veröffentlichungen zur RAF von ehemaligen Linken "unangebrachte Schärfen" gelesen. In Einzelfällen habe es sich um regelrechte Abrechnungen gehandelt.

"Die RAF als Struwwelpeter"

Noch deutlicher wird Hermann L. Gremliza, Herausgeber des linken Nachrichtenmagazins "Konkret", bei dem Ulrike Meinhof einst schrieb. Gegenüber tagesschau.de kommentiert Gremliza: "Die 'Neue Linke' , die Achtundsechziger, die Autonomen, Spontis und Maoisten, damals allesamt Sympathisanten der RAF, sind heute Außenminister a.D., Berater der Bundesregierung, Redakteure bei Springer oder sitzen im Feuilleton der FAZ - und wissen von ihrer einstigen Sympathie absolut nichts mehr." Gremliza meint, die RAF sei für sie "eine Art Struwwelpeter, an dem sie lehren, was aus Leuten wird, die sich nicht anpassen wollen." Dementsprechend gebe es heute auch kaum noch Solidarität mit den Ex-RAF-Mitgliedern, so Gremliza. "Abgesehen von Verwandten und einzelnen Freunden können die Gefangenen mit keinerlei Solidarität rechnen, allenfalls auf Interventionen einiger eher liberaler Menschen- und Bürgerrechtler bezüglich Haftdauer und Haftbedingungen."

Für die Grünen, hervorgegangen aus der außerparlamentarischen Opposition (Apo), stellt sich heute die Frage nach der in der Linken oft beschworenen Solidarität im Fall RAF-Gefangene grundsätzlich nicht. Grünen-Chefin Claudia Roth gegenüber tagesschau.de: "Für linke Politik sind Menschenrechte, Meinungsfreiheit, der Respekt vor dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit des Anderen essentiell." Daher sei bei den RAF-Gefangenen „Solidarität fehl am Platz", so die frühere Managerin der legendären Band "Ton, Steine und Scherben".

"Kommerzielles Ausschlachten" und "alte Reflexe"

In den 1980iger Jahren, den wilden Gründungsjahren, stritt die Partei noch leidenschaftlich über den Umgang mit den RAF-Gefangenen. Otto Schily, zuvor noch RAF-Anwalt und später dann Bundesinnenminister, wollte damals eine strikte Trennung zur Szene der RAF-Sympathisanten. Antje Vollmer, langjährige Vizepräsidentin des Bundestages, setzte gegen den Willen der eigenen Grünen-Fraktion jedoch eine Dialoginitiative mit den RAF-Gefangenen durch. "Wir wollten eine politische Lösung. Wir wollten den ' Mythos RAF' knacken und die Individuen hinter dem Kollektiv zum Vorschein bringen", blickte Vollmer in der "taz" zurück.

Die Aufregung um die RAF im Jahr 2007 sieht sie als kommerzielles Ausschlachten: "Mich entsetzt, dass es jetzt, nachdem die Tragödie vorbei ist - nach der Zeit der Morde und nach der Periode der Mythenbildung -, nun eine dritte Phase gibt, in der nur noch brutal vermarktet wird. Von Bild bis Spiegel haben Medien das Thema so hoch gekocht, als handele es sich um die wichtigste Frage der Republik." Auch von Plottnitz, einst Anwalt des RAF-Terroristen Jan-Carl Raspe, wundert sich über die Aufregung in diesem Jahr. Es gehe immerhin um ein historisches Thema, bei dem man keinen "Schaum vor dem Mund" haben müsse. Zum Teil handele es sich aber auch um "altbekannte Reflexe von Rechts".

Schwein, Terrorsympathisant, Mensch oder Staatsbürger?

Aber auch die linke "Tageszeitung" (taz) behandelt das Thema RAF 30 Jahre nach dem deutschen Herbst ausführlich. Kein Wunder, geht es für sie nicht nur um ein Kapitel der eigenen Geschichte, sondern um den Urknall: "Ohne RAF und deutschen Herbst hätte es die taz nie gegeben", schreibt die taz-Autorin Ute Scheub. "Die Geburtsstunde war das schockierende Erlebnis, das sich alle Medien während der Schleyer-Entführung freiwillig der Nachrichtensperre der Bundesregierung unterwarfen." Später hätten die Blattmacher zwischen Staat und Terroristen geklemmt: "Die RAF verlangte absolute Solidarität mit den vermeintlich 'durch Isolationshaft gefolterten' Gefangenen: 'Mensch oder Schwein, etwas Drittes gibt es nicht'. Und die Politiker verlangten absolute Solidarisierung mit dem 'bedrohten Staat': 'Staatsbürger oder Terrorsympathisant, etwas Drittes gibt es nicht'." Die taz scheint im Rückblick der Ansicht zu sein, sich gegen die Umarmungsversuche beider Seiten erfolgreich gewehrt zu haben und den goldenen Mittelweg gefunden zu haben.

Selbstgerechte Aufarbeitung der eigenen Geschichte beschäftigt Gerd Koenen – ehemaliger Polit-Aktivist in Frankfurt am Main - in seinem Buch "Das rote Jahrzehnt". Er schreibt: Die Aktivisten von damals stünden mittlerweile so weit neben sich, "wenn es darum geht, sich die eigenen Motivationen noch einmal zu vergegenwärtigen und zu fragen, woher diese über alle lebendigen Erfahrungen und Interessen weit hinausschießende, abstrakte Theorie- und Organisationswut, diese jederzeit abrufbare Militanz und Empfänglichkeit für weltrevolutionäre Phrasologien damals eigentlich kamen. Und da man sich das selbst nicht mehr recht aufklären konnte, verdrängte oder verklärte man diese Geschichte. Sie war vorwiegend zum Stoff spätabendlicher Kneipengespräche oder häuslicher Anekdoten 'aus der Kampfzeit' geworden."

Bewaffneter Kampf? "Kein Thema"

In der heutigen – stark marginalisierten – linken Bewegung sind die ellenlangen historischen Abhandlungen zum Thema RAF inzwischen zur Randnotiz geschrumpft. Auf wichtigen linken Internet-Plattformen wie Indymedia, wo zu allen erdenklichen Themen ausführliche Stellungnahmen einlaufen, Debatten geführt und Streitereien ausgelebt werden, sind die RAF-Gefangenen beispielsweise kaum präsent. Aus der jüngeren Zeit fällt nur eine Stellungnahme der DKP-nahen "Roten Hilfe" auf; darin heißt es: "Unsere Solidarität gilt Birgit Hogefeld […] und Christian Klar ebenso wie allen anderen politischen Gefangenen."

Zustimmung für die Methoden der RAF sucht man in dieser Polit-Szene vergebens. Gespräche mit Hamburger Aktivisten, die den deutschen Herbst im Kinderhochstuhl erlebt hatten, zeigten: Der bewaffnete Kampf ist hier überhaupt kein Thema. Eine Debatte darüber erscheint den Gefragten offenbar absurd. Unter anderem, da die außerparlamentarische Linke nach dem kontinuierlichen Niedergang und den zahlreichen Spaltungen zurzeit ganz andere Probleme zu lösen hat. Es gehe darum, überhaupt noch politikfähig zu sein, heißt es.

In dem Begriff Terrorismus wollen die jüngeren Linken vor allem eins erkennen: Einen "Kampfbegriff von Law-and-order Politikern, um linke Gruppen zu kriminalisieren", heißt es immer wieder. Die Polit-Aktivisten führen als aktuelles Beispiel die Anti-Terror-Razzien vor dem G8-Gipfel an. Und auch der Rechtsanwalt von Plottnitz meint, man müsse sich bisweilen über die Bundesanwaltschaft wundern: Die Anwendung des Paragrafen 129a sei teilweise "verblüffend".

"Politische Nötigung des Bundespräsidenten"

Grünen-Chefin Roth fordert denn auch, die Politik müsse endlich die Lehren aus dem Deutschen Herbst ziehen. Der "Kampf gegen den Terror" dürfe nicht wieder zum Vorwand genommen werden, um Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken. Die Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Herbstes sei auf allen Seiten mangelhaft gewesen: Diese Mängel seien in den "Debatten der letzten Monate - bis hin zu den politischen Nötigungen des Bundespräsidenten, die es im Fall Christian Klar gegeben hat" - deutlich geworden.

Aber auch an die Ex-RAF-Kämpfer appelliert die Grünen-Chefin: In den juristischen Verfahren gegen die RAF-Angehörigen blieb vieles im Vagen." Daher sollten die Täter ihr Schweigen brechen. Die linksradikale "Rote Hilfe" stellt indes klar, dass es ihr nicht "um Nostalgie oder gar um eine nachträgliche Verklärung der Geschichte der RAF" gehe. Aber man wolle sich der Geschichte stellen – und nicht die gleichen Fehler noch einmal begehen. Denn: Die RAF "ist und bleibt mit all ihren Anstößen und Fehlern auch ein Teil der linken Geschichte".