Alltag in Afghanistan Taxifahren für den Wiederaufbau

Stand: 29.08.2007 14:25 Uhr

Unermüdlich krempelt Nagi die Ärmel hoch. Zur Zeit hat er zwei Jobs: Mal ist er Bundeswehr-Dolmetscher, mal Taxifahrer, mal beides zusammen. Sein Beispiel zeigt: Der wirtschaftliche Aufschwung in Kabul gedeiht, aber auf morastigem Boden.

Nagi kommt gern zum alten Königs-Mausoleum zum Beten. Wann immer es ihm gelingt, setzt er sich barfuß ins Sperrgebiet, hinter das schwer beschädigte Königsgrab. Hier oben sind nur ein paar niederländische Soldaten. Sie überwachen die Altstadt von Kabul. Um militärische Verbotszonen muss sich Nagi nicht kümmern, solange er im Dienst ist. Er arbeitet als Dolmetscher für die Bundeswehr. Wenn er mit dem Beten fertig ist, genießt er den Blick auf seine Heimatstadt. Von hier aus erscheint sie unversehrter als sie tatsächlich ist.

Problemlos neue Identitäten schaffen

Der Verkehr fließt laut und dicht. Die meisten zerschossenen Häuser sind wieder bewohnt. Auf dem Platz vor der größten Moschee sammeln sich blumengeschmückte Lastwagen. Die Pilger aus Mekka sind zurück und feiern den glücklichen Verlauf der Reise. Nur das Stadion gegenüber ist menschenleer. Dort haben die Taliban ihre Gegner öffentlich zusammengeschlagen, verstümmelt, hingerichtet. Etliche der Schlächter leben heute unerkannt in der Stadt, vermutet Nagi. Turban und Bart hätten viele nach der verlorenen Schlacht gegen die Amerikaner einfach abgelegt. So fallen sie im Strom der heimkehrenden Flüchtlinge nicht weiter auf. Jeder Afghane kann sich in Kabul derzeit mühelos eine neue Identität verschaffen.

Prügel für zu kurzen Vollbart

Auch Nagi trägt Vollbart, aber auf seine Art: Europäisch kurz geschnitten. Dafür haben ihn die Islamisten damals mehrfach verprügelt. Zwanzig Peitschenhiebe mit einem Elektrokabel, gängige Strafe für kleinere Vergehen, vollstreckt auf der Straße, fast im Vorübergehen. Mit seiner Familie hat er sich in dieser Zeit nur selten auf die Straße gewagt. Ein Mal wurde er festgenommen und verhört, weil er mit seiner Ehefrau auf der Straße gesprochen hatte. In den Augen der Taliban der Versuch, eine verbotene Beziehung anzubahnen. Das alles ist vorbei. Deshalb klagt Nagi nicht über die schlechten Lebensverhältnisse in der afghanischen Hauptstadt. Die meisten Lebensmittel, die inzwischen wieder auf dem Markt angeboten werden, sind unerschwinglich. Monatelang gehen seine drei Kinder nun schon nicht mehr zum Unterricht. Aber viele Schulgebäude werden wieder hergerichtet. Autoabgase und Hausbrandschwaden verpesten die Atemluft in Kabul. Aber die Menschen können sich wieder in der Stadt bewegen und ihre Wohnungen sind wieder warm.

Risiko Nachtfahrt

Die Bundeswehr zahlt Nagi für seine Dienste als Sprachmittler und Taxifahrer so viel, dass er mit seiner Familie in einem halbwegs intakten Stadtviertel wohnen kann. Zu seinem Arbeitsplatz im Camp Warehouse am Rande Kabuls fährt er mit dem eigenen Taxi eine gute halbe Stunde - auf eigenes Risiko. Ungebändigt durch Verkehrsregeln schießen verbeulte russische Lastwagen, aufgemotzte japanische Pickups und indische Kleinwagen wild durcheinander. Radfahrer werden rüde bei Seite gehupt. Letzte Fahrt für heute, von Camp Warehouse zurück in die Stadt. Es dämmert. Nagi hat es eilig. Nachts wird er oft von afghanischen Soldaten angehalten, die wichtige Kreuzungen in der Stadt überwachen - nach ihren eigenen Regeln. Das ist Nagi und vielen anderen Taxifahrern nicht ganz geheuer.

17 Reifenpannen in sechs Monaten

Jenseits der Scheinwerfer liegt der Rand der Straße im Dunkel. Nagi gibt Gas. Plötzlich schlingert der Wagen, rutscht in den Graben. Irgend ein spitzer Gegenstand im Schlamm auf der Fahrbahn hat einen Reifen zerstochen. Bei völliger Finsternis, mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen, montiert er das Ersatzrad. Lachend wischt sich Nagi die verschmierten Hände mit einem Lappen ab: "Kein Problem, ich bin das gewöhnt. Es war meine siebzehnte Panne in den vergangenen sechs Monaten. Mal sehen, wo ich diesmal einen neuen Reifen her bekomme."

Heiner Heller, ARD-Hauptstadtstudio