Interview

ARD-Terrorexperte Wagner "Anschlagsgefahr wie im Herbst 2001"

Stand: 22.06.2007 12:38 Uhr

In Deutschland hat sich nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden die Anschlagsgefahr erhöht. Entsprechende Medienberichte bestätigte das Innenministerium. tagesschau.de sprach mit dem ARD-Terrorexperten Wagner über die Hinweise, den Zeitpunkt der Warnung und konkrete Gefahren.

Die Bundesregierung geht zurzeit von einer erhöhten Terrorgefahr in Deutschland und auch für Deutsche in Afghanistan aus. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte, die terroristischen Strukturen seien wieder erstarkt. Es gebe Hinweise auf Verbindungen nach Deutschland. Innenstaatssekretär August Hanning verglich die aktuellen Terrorhinweise in Deutschland mit der Lage im Vorfeld der Anschläge vom 11. September 2001. Allerdings, so Vize-Regierungssprecher Thomas Steg, gebe es nach wie vor keine Hinweise auf eine konkrete Gefahr.

tagesschau.de sprach mit dem ARD-Terrorismusexperten Joachim Wagner im Berliner Hauptstadtstudio über die Hinweise, die die deutschen Sicherheitsbehörden anscheinend erhalten haben, über die Gefahr für Deutsche in Afghanistan und den Zeitpunkt der Warnung.

tagesschau.de: Wie konkret ist die Anschlagsgefahr?

Joachim Wagner: Das Innenministerium und die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass es in erster Linie eine erhöhte Gefahr von Terrorakten gegen Deutsche in Afghanistan gibt – Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfer und Botschaftsangehörige. Es gibt aber auch eine erhöhte Gefahr in Deutschland. Die Experten sagen, sie sei so groß wie im Herbst 2001. Was fehlt, sind konkrete Hinweise auf Attentatspläne.

tagesschau.de: Es wird auf ein Video mit Terrordrohungen verwiesen, das dem US-Sender ABC zugespielt wurde. Wie ist das zu bewerten?

Wagner: Das Video lässt zwei Interpretationen zu. Entweder dient es reinen Propaganda-Zwecken oder es ist eine ernst gemeinte Ankündigung von Selbstmord-Attentaten auch in Deutschland. Die Interpretation ist selbst für Experten sehr schwierig. Das Innenministerium neigt zu der zweiten Version, also dass es neben der Propaganda auch eine ernsthafte Gefahr gibt.

Beweise durch Festnahme

tagesschau.de: Welche Hinweise stützen diese Einschätzung?

Wagner: Wichtig für die Interpretation des Videos ist die Tatsache, dass es einen regen Reiseverkehr von so genannten Gefährdern zwischen der Bundesrepublik und Pakistan, aber auch Iran gibt. Dabei handelt es sich um Deutsche oder in Deutschland wohnende Ausländer. Es gab zwei Festnahmen, eine in Pakistan, die andere im Grenzgebiet zwischen Iran und Afghanistan. Beide Personen sind als Gefährder registriert – und zwar in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz. Islamisten sind also auf der Reise in das Stammesgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Der in Pakistan Gefasste ist auf der Rückreise nach Deutschland festgenommen worden. Das zeigt, Islamisten bewegen sich zwischen Deutschland und Gebieten mit Taliban- und Al-Kaida-Hochburgen.

tagesschau.de: Diesen Reiseverkehr gab es ja auch schon früher...

Wagner: Früher wusste man vor allem von einem Reiseverkehr in den Irak. Die neue Qualität ist, dass man durch die Festnahmen Beweise hat. Diese Gefährder stehen im Verdacht, islamistische oder terroristische Aktivitäten durchzuführen oder zu unterstützen. Wenn man zwei solcher Gefährder in dieser Region findet, dann ist das ein konkretes Alarmzeichen. Hinzu kommt, dass zehn Deutsche bzw. Personen, die in Deutschland gelebt haben, in Pakistan verschwunden sind. Es besteht der Verdacht, dass sie sich in Terror-Ausbildungslagern oder in Koranschulen aufhalten. Genaue Erkenntnisse gibt es allerdings nicht.

tagesschau.de: Warum könnte Deutschland jetzt verstärkt ins Visier von Terroristen geraten?

Wagner: Man nimmt an, dass es auch eine höhere Anschlagsgefahr gegen Deutsche in Afghanistan und in Deutschland gibt, weil im Herbst der Bundestag über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan entscheidet. Die Sicherheitsbehörden wissen, dass Terroristen in Pakistan und Afghanistan, aber auch ihre Helfer hier die innenpolitische Entwicklung genau beobachten. Die Anschläge in Madrid im März 2004 fanden kurz vor den Wahlen statt und haben im Endeffekt dazu geführt, dass Spanien seine Truppen aus Irak abzog. Es könnte sehr wohl Ziel der Terroristen sein, die Abstimmung im Bundestag über den Afghanistan-Einsatz durch Anschläge zu beeinflussen.

Warum jetzt eine Warnung?

tagesschau.de: Können Sie nachvollziehen, dass die Behörden jetzt mit dieser Warnung an die Öffentlichkeit gehen?

Wagner: Wenn es nur das Video gewesen wäre, wäre eine solche Warnung nicht gerechtfertigt gewesen. Angesichts der Festnahmen und des regen Reiseverkehrs scheint sie angebracht. Es ist offenbar das Ziel des Innenministeriums, die Öffentlichkeit und die Sicherheitsbehörden zu sensibilisieren. In zweiter oder dritter Hinsicht vielleicht auch das Verfolgen innenpolitischer Ziele. Vielleicht will man die SPD damit auch wieder an den Verhandlungstisch über die BKA-Novelle drängen. Es wurde von den Sicherheitsbehörden noch einmal die Notwendigkeit von heimlichen Online-Durchsuchungen betont, da die Kommunikation zwischen Terroristen immer mehr über das Internet stattfindet. Über das Telefon wird kaum noch kommuniziert.

Die Fragen stellte Wolfram Leytz, tagesschau.de