Interview

Gewalt an Schulen "Stammtischparolen helfen nicht"

Stand: 25.08.2007 17:39 Uhr

Auf den Hilferuf der Berliner Rütli-Hauptschule folgten in Windeseile Ideen aus der Politik: "Schnupperknast" für kriminelle Schüler, Umverteilung von Problemkindern, keine Einschulung ohne Deutschkenntnisse lauteten nur einige der Empfehlungen. Doch wie wird in der Praxis darüber gedacht? tagesschau.de bat zwei Hauptschullehrer, die Vorschläge zu bewerten.

Zur Person

Michael Strohschein ist Vize-Vorsitzender der GEW Niedersachsen. Er unterrichtet deutsche, kurdische, türkische, libanesische und deutsch-russische Schülerinnen und Schüler in den Fächern Erdkunde und Geschichte an der Hauptschule der friesischen Kleinstadt Varel.

Zur Person

Helge Dietrich ist Landesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung in Berlin. Er unterrichtet Gesellschaftskunde an der Ernst-Reuter-Schule in Berlin Mitte. Seine Schüler kommen aus zwölf Nationen.

Umverteilung der Schüler:

Die Berliner CDU hat sich für das so genannte "Bussing" ausgesprochen - also die Verteilung von Problemkindern auf andere Bezirke.

Michael Strohschein:

Wer Städte und Schulnetze plant, sollte stärker auf eine angemessene soziale sowie sprachliche Mischung achten und so Gettobildungen verhindern. Wie aber Schüler aus bereits existierenden Brennpunktschulen umverteilt werden sollten, ist mir persönlich nicht klar. Wird die Hälfte der Jugendlichen morgens mit dem Bus abgeholt? Welche Schüler kommen stattdessen? Werden Eltern „unproblematischer Kinder“ gezwungen, ihre Sprösslinge beispielsweise in die Rütli-Schule zu schicken? Wer legt die Kriterien fest?

Helge Dietrich:

Vorschläge, die Situation von Hauptschulen in Problemkiezen durch ein so genanntes Bussingsystem zu entschärfen, laufen ins Leere, da die Probleme nicht gelöst, sondern nur in andere Regionen der Stadt verlagert werden. Wichtiger ist es, durch ein enges Netz von Unterstützungssystemen den Jugendlichen wieder eine Perspektive zu eröffnen. Dazu gehört aber auch, dass an den Schulen Null Toleranz gegenüber Verstößen gegen aufgestellte Regeln herrscht und diese konsequent angewendet werden.



Härtere Strafen:

Brandenburgs Innenminister Schönbohm fordert einen "Schnupperknast" für kriminelle Schüler, also sie für ein paar Tage in ein Erziehungsheim oder Jugendgefängnis zu stecken. Der Lehrerverband brachte einen "Schularrest" in die Debatte. "Es kann durchaus Sinn machen, randalierende Schüler in der Schule festzusetzen und unter Bewachung zu stellen, statt sie zur Belohnung auch noch nach Hause zu schicken", sagte der Vorsitzende Josef Kraus.

Strohschein:

Durch „Schularrest“ und „Schnupperknast“ werden Jugendliche kriminalisiert. Es besteht die Gefahr, dass die Anerkennung in ihrem oft problematischen Umfeld gerade durch diese Strafen wächst und man so das Gegenteil des Gewünschten erreicht. Dies soll aber kein Plädoyer für Inkonsequenz sein. Für uns gilt im Alltag ganz klar das Prinzip: Keine Toleranz für Regelverletzungen. Genau so wichtig ist der Abbau von Diskriminierung jeglicher Art. Hier muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen. Schulsozialarbeit und der Einsatz zusätzlicher Lehrerinnen und Lehrer, die türkisch oder andere relevante Fremdsprachen sprechen, sind unabdingbare Voraussetzungen für Integration.

Dietrich:

Die derzeitige Situation ist auch darauf zurückzuführen, dass Schule immer mehr verrechtlicht worden ist. Dabei blieb der pädagogische Auftrag häufig auf der Strecke. Bei Regelverstößen ist es notwendig, die vorhandenen Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen konsequent, sinnvoll und schnell anzuwenden. Bis zur Entscheidung über schwerwiegende Verstöße müssen Möglichkeiten geschaffen werden, den Schuldigen vom Schulbesuch auszuschließen. Auch kriminelle Handlungen müssen schnell und nachhaltig geahndet werden.


Deutschkenntnisse fördern und fordern:

Bayern will ab September Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen nicht mehr einschulen, stattdessen sollen sie in Förderklassen kommen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Böhmer, fordert verpflichtende Deutschtests bei der Einschulung.

Strohschein:

In der Schule müssen sich alle an Regeln halten und die Rechte des anderen achten. Hierfür ist die Förderung von Deutschkenntnissen vor der Einschulung ein richtiger Ansatz. Die Probleme vieler unserer Schüler und ihrer Familien reichen jedoch weiter: Armut, Aggression, kulturelle Differenzen. Schulen und Sozialarbeiter sollten viel enger zusammenarbeiten, um Problemen frühzeitig zu begegnen. Dies kostet Geld.

Dietrich:

Ausreichende Deutschkenntnisse sind ein essentielles Kriterium für die Schulfähigkeit eines Schulanfängers. Verpflichtende Zusatzkurse zur Erlangung ausreichender Sprachkenntnisse sind für Schulanfänger unabdingbar. Aber auch Seiteneinsteiger, die erst später nach Deutschland kommen, müssen zunächst ein zeitlich individuell begrenztes Angebot zum Erlernen der deutschen Sprache erhalten. Ein kostenfreies letztes Kitajahr für alle Kinder wäre ein wichtiges Hilfsangebot für alle Eltern mit und ohne Migrationshintergrund.


Abschaffung der Hauptschule:

Neben anderen plädierten auch die Grünen für die Abschaffung der Hauptschule. Diese sei für die Kinder eine Sackgasse ohne Zukunftsperspektiven.

Strohschein:

Schülerinnen und Schüler der Hauptschule werden zu immer größeren Anstrengungen aufgefordert für einen Abschluss, der immer weniger wert ist. Das merken sie spätestens dann, wenn sie sich um einen Ausbildungsplatz bewerben. Nach meiner Überzeugung dürfen wir aber keinen einzigen Jugendlichen aufgeben - jeder hat eine reelle Chance verdient. Ein Bildungssystem, das nur auf Auslese setzt, können wir uns deshalb nicht länger erlauben. Die spezielle Förderung Benachteiligter hat deshalb allemal eine Zukunft, die Hauptschule als eigenständige Schulform aber immer weniger.

Dietrich:

Die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems wird das Problem allein nicht lösen können. Die Einführung einer Gesamtschule in Berlin war seinerzeit u. a. ein Versuch, die Nachteile des dreigliedrigen Schulsystems aufzuheben. Leider blieb es bei dem Versuch. Ein neuer Ansatz ist wünschenswert, jedoch muss diese neue Schulform finanziell und personell so ausgestattet werden, dass sie durch ihre erfolgreiche Arbeit den Schülerinnen und Schülern eine Zukunftsperspektive bieten kann.



Fazit

Strohschein:

Meine Kolleginnen, Kollegen und ich empfinden uns als Anwälte unserer benachteiligten Schülerinnen und Schüler. Wir bemühen uns, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern präventiv zu arbeiten und soziale Nachteile so gut es geht zu kompensieren. Das Engagement an den Hauptschulen ist trotz der höchsten Belastung und Arbeitszeit beachtlich. Da ist es außerordentlich ärgerlich, wenn Politiker vor dem Hintergrund des dramatischen Hilferufs aus der Rütli-Schule zu populistischen Stammtischparolen greifen, die die Integration nicht fördern.

Dietrich:

Leider ist Schule trotz aller Beteuerungen der verantwortlichen Politiker in den letzten Jahren immer mehr ins Abseits geraten. Diffamierungen unserer Kolleginnen und Kollegen taten ein Übriges, das Ansehen der Lehrerschaft in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Lehrerinnen und Lehrer auf der einen Seite und Eltern auf der anderen Seite müssen wieder mehr miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Die Erziehung unserer Kinder kann nicht allein Aufgabe der Schule sein.