Interview

Interview mit Maxim Biller "Deutschland ignoriert seine Ausländer"

Stand: 27.08.2007 02:08 Uhr

Der Publizist und Journalist Maxim Biller wurde als Kind russischer Eltern in Prag geboren. Als Zehnjähriger kam er mit seiner Familie nach Deutschland.Auf tagesschau.de erzählt Biller über die Schwierigkeiten, als Fremder in Deutschland anerkannt zu werden undwarum der Ruf nach einer Leitkultur für ihn eine Provokation ist.

tagesschau.de: Herr Biller, Ihre Familie könnte man als multikulturell bezeichnen. Empfinden Sie sich so?

Biller: Ich fühle mich als Jude. Aber ich bestehe natürlich aus vielen Elementen: aus tschechischem Humor, russischer Melancholie, jüdischer Hysterie und Selbstironie, aus deutscher Ernsthaftigkeit.

tagesschau.de: Deutsche Politiker rufen in letzter Zeit immer öfter nach einer deutschen Leitkultur. Was halten Sie davon?

Biller:Dafür muss man zuerst verstehen, was hinter einer solchen Forderung wirklich steckt. Ich glaube, wer Leitkultur fordert, will eigentlich nur eins: Er will, dass ich so werde wie er. Will ich aber so sein wie Friedrich Merz oder Angela Merkel? So provinziell, so humorlos, so introvertiert? Natürlich nicht. Und ich weiß, dass die meisten meiner deutschen Freunde auch nicht so sein möchten wie diese Politiker. Was die uns als deutsche Leitkultur verkaufen wollen, haben wir echten, wir kosmopolitischen Deutschen, schon in den 80er Jahren abgeschafft. Damals ist Deutschland endlich mental und kulturell im Westen angekommen, und dort sollte es auch bleiben.

Dieser Prozess hört natürlich nicht auf. Jetzt geht es darum: Wollen wir, dass alle Nichtdeutschen in Deutschland wie Deutsche werden? Oder wollen wir, dass nicht nur die Nichtdeutschen von Deutschen lernen, sondern auch wir von ihnen? Wenn wir das wollen, dann ist die Forderung nach so etwas wie deutscher Leitkultur eine Provokation. Sie schürt Konflikte – und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Merz und Merkel das wirklich wissen.

Fremde leben in einem Schattenreich

tagesschau.de:Was muss denn geschehen, damit Deutsche und Dazugezogene voneinander lernen können?

Biller:Beide Seiten müssen sich zuerst klar machen, was in den vergangenen Jahrzehnten falsch gewesen ist. Als ich 1970 mit zehn Jahren hierher kam, wollte Deutschland keine Ausländer, Deutschland wollte Arbeitskräfte. Für die Menschen und ihre Geschichte hat man sich nicht interessiert. Ich persönlich hatte es besser, um mich hat man sich bemüht. Ich war ein kleiner netter Tscheche aus einer Intellektuellen-Familie, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings vor den gemeinen kommunistischen Russen fliehen musste. Damit war ich ein Held des Kalten Krieges. Die meisten ausländischen Kinder waren aber Kinder von Gastarbeitern – und die lebten hier wie in einem Schattenreich. Unbeachtet, vernachlässigt, sozial marodierend. Man hat ihnen nie die Möglichkeit gegeben, an all dem teilzunehmen, was dieses Land an schönen Dingen bietet.

Die meisten Menschen, die in den 70er und 80er Jahren zu uns gekommen sind, stammten aus einfachen Schichten. Sie hätten sehr viel mehr als ich wirklich Hilfe gebraucht. Statt dessen hat man sie vollkommen sich selbst überlassen. Es gibt kein anderes Land, das so wenig antisemitisch und so wenig rassistisch ist wie Deutschland. Aber gleichzeitig wird man hier als Fremder völlig ignoriert.

Nachholen, was in den 70er Jahren versäumt wurde

tagesschau.de: Sie machen das mangelnde Interesse an den Gastarbeitern dafür verantwortlich, dass diese sich gesellschaftlich isoliert haben?

Biller: Deshalb, und nur deshalb, haben sich die Ausländer bei uns schnell eine eigene Welt geschaffen. Aber auch das war natürlich ein Fehler. Ein gemütliches Wohnzimmer, ein gemütliches Caféhaus, türkisches Kabelfernsehen - das reichte ihnen zum Glücklichsein. Sie haben nie die Initiative ergriffen und sich bemüht, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Trotzdem muss man das verstehen. Im Gegensatz zu den USA oder Argentinien ist Deutschland kein Land, wo jeder, der neu ankommt, sofort Teil des großen Ganzen ist, weil dort alle irgendwann neu angekommen sind. Die Motivation, die man als Immigrant in den USA bis heute hat: „Arbeite und du gehörst dazu“ - diese Motivation gibt es in Deutschland nicht. Das Wir-Gefühl ist bis heute nur den deutschen Deutschen vorbehalten. Oder den total assimilierten Ausländerkindern.

Wenn also im Jahr 2004 jemand Deutschkurse für Ausländer fordert, vergisst er, dass man diesen Ausländern schon in den 70er Jahren hätte helfen sollen, deutsch zu lernen - auch im übertragenen Sinne! Wie gesagt, inzwischen haben sich die Ghetto-Strukturen total verfestigt. Wer jetzt den Ausländern droht und sagt, ohne Deutschsprechen kein Deutschsein, verletzt sie in ihrer Würde und verstärkt dadurch die Konfrontation.

tagesschau.de: Einige Politiker fordern neben Sprachkursen auch Integrationskurse für Ausländer. Was halten Sie davon?

Biller: Wenn Integrationskurse für Ausländer, dann auch Integrierungskurse für Deutsche! Das ist natürlich alles Blödsinn... Beide Seiten müssen sich öffnen: Politik ist immer eine Frage des Herzens. Wir müssen Interesse an dem anderen haben - oder zumindest Interesse an einem gemeinsamen Projekt. Egal wo wir geboren sind, in Siegen, Hamburg, Antalya oder Tel Aviv: Alle, die hier leben, haben ein gemeinsames Projekt: Ein offenes, kosmopolitisches Deutschland.

tagesschau.de:Viele Menschen in Deutschland würden ihn bestimmt antworten, dass sie offen sind - oder zumindest tolerant. Reicht das nicht?

Biller: Wenn ein jüdisches Kind in eine deutsche Schule geht, dann bekommt es, je näher Weihnachten rückt, immer mehr Adventskalender geschenkt, es wird immer öfter zum Plätzchenbacken eingeladen, und wenn es Pech hat, muss es auch noch im Musikunterricht Lieder vom Christkind und von Maria singen. Keiner kommt auf die Idee, dass dieses Kind eigene Feiertage hat. Das ist respektlos, zumindest gedankenlos.

Oder ein anderes Beispiel: In den letzten Wochen waren die Zeitschriften voll mit Tipps für Weihnachtsgeschenke. Kein Chefredakteur denkt daran, dass es in diesem Land mehrere Millionen Muslime gibt, die mit Weihnachten nichts zu tun haben. Wo bleiben die Ramadan-Titelgeschichten und Zuckerfest-Specials? Will man wirklich nicht, dass auch türkische Leute deutsche Zeitschriften lesen?

Ausländerpartei als Weg zur Integration

tagesschau.de: Wenn die Ausländer bei uns keine Lobby haben, wie kann man ihnen denn mehr Gehör verschaffen?

Biller: Manchmal denke ich, wir brauchen eine Ausländerpartei. In Israel gibt es zum Beispiel eine Partei für russischstämmige Einwanderer. Diese Partei hat in vielen Punkten geholfen, auf den Rest der Gesellschaft Druck auszuüben, damit die oft ungeliebten und unterprivilegierten russischen Einwanderer ihre Rechte bekommen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Und je besser es ihnen wirtschaftlich geht, desto mehr fühlen sie sich auch mental und kulturell als Teil der Gesellschaft. Eine Ausländerpartei könnte eine Zeitlang in Deutschland ähnlich funktionieren, und dass gerade Ausländer oft wütend auf diesen Vorschlag reagieren, beweist, wie sehr wir die Ausländerpartei brauchen.

Es gibt aber natürlich Bereiche, in denen man sich nur als Einzelner durchsetzen kann und muss, obwohl es da besonders schwer fällt. In der Kunst, im Journalismus. Bis jetzt muss man sich als Ausländer total assimilieren, wenn man bei uns einen Fernsehsender leiten will, und als deutsch schreibender Schriftsteller fremder Herkunft bekommt man bestenfalls den Adalbert-von-Chamisso-Preis – das ist ein Preis für deutsch schreibende Schriftsteller fremder Herkunft. Wenn man aber so wie ich ein ethnischer, kultureller, nationaler und religiöser „Mix“ ist und sich in seiner Arbeit seine eigene Identität bewahren will, muss man sehr viel Kraft haben, durchzuhalten.

Das Gespräch führte Christine Kahle, tagesschau.de