Behinderte in der Literatur "Es war einmal ein Buckliger..."

Stand: 16.08.2007 16:21 Uhr

Vom Seher Teiresias über Quasimodo zu Christopher Boone – Figuren mit Behinderungen spielten schon immer eine Rolle in der Literatur. Ihre Darstellung als monströser Bösewicht oder liebenswerter Sympathieträger war dabei immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Von Jan Ehlert für tagesschau.de

"Weil Du meinen Worten nicht geglaubt hast, sollst Du stumm sein und nicht mehr reden können (Lukas 1,20)." - Behinderung als göttliche Strafe hat nicht nur in der Bibel Tradition. Auch in der griechischen Mythologie wird die Auffassung vertreten, dass die körperliche oder geistige Behinderung die Folge eigenen Fehlverhaltens ist. Teiresias, der blinde Seher, erzürnte die Göttin Hera, da er sich bei einer Wette auf die Seite von Zeus stellte. Zacharias, der Vater von Johannes dem Täufer verliert die Sprache, weil er an der Prophezeiung Gottes gezweifelt hatte. Da die Strafe von Göttern verhängt wurde, konnte sie auch nur von diesen wieder aufgehoben werden: Herakles wird durch sie vom vorübergehenden Wahnsinn erlöst, auch die Wunderheilungen Jesu werden als Zeichen göttlicher Gnade verstanden.

Von der Witzfigur zum Helden

Im Mittelalter und in den darauf folgenden Epochen tritt ein neuer Aspekt auf: Der körperlich oder geistig beeinträchtigte Mensch dient den Autoren als Witzfigur: In "Le Garçon et l’Aveugle" aus dem 13. Jahrhundert macht sich ein junger Diener über einen Blinden lustig. Auch in den Geschichten aus 1001 Nacht dienen die behinderten Brüder des Barbiers dem Sultan zur Erheiterung; die Stockschläge, die sie erhalten, scheinen dem Herrscher gerechtfertigt.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts beginnen Autoren, behinderte Protagonisten vielschichtiger und reflektierter zu porträtieren und versuchen, die Gefühlswelten behinderter Menschen zu beschreiben. Eines der bekanntesten Beispiele ist Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame (1820). Hugo verleiht seinem Protagonisten auch menschliche Gefühle: Quasimodo verliebt sich in Esmeralda, allerdings bleibt diese Liebe unerfüllt. Einen Schritt weiter geht Charlotte Brontë 1847: Ihre Protagonistin Jane Eyre heiratet im gleichnamigen Roman am Ende ihren Geliebten Edward, obwohl dieser durch ein Feuer entstellt und erblindet ist. Auch hier wird Behinderung allerdings noch als etwas Negatives empfunden: Erst durch Edwards Deformation akzeptiert die Gesellschaft die Hochzeit mit der standesmäßig unter ihm stehenden Jane.

Dennoch beginnen Menschen mit Behinderungen, sich als Subjekte in der Literatur durchzusetzen. Sie werden als liebenswerte Menschen geschildert, die in die Gesellschaft integriert werden können, dabei allerdings auf Hilfe angewiesen sind. Häufig sieht die zeitgenössische Darstellung letzten Endes nur ein gnadenvollen Ausweg aus dem schlimmen Schicksal - den Tod. So bleibt der blinden Muriel in Dinah Craiks Roman "John Halifax, Gentleman“ (1856) das Erwachsenwerden "erspart“, sie stirbt an ihrem 11. Geburtstag.

Behinderung in der Mitte der Gesellschaft

1878 wird jedoch auch diese Barriere durchbrochen: In „The World as I have found it“ erzählt die blinde Autorin Mary L. Day Arms in autobiografischer Form ihre Reise durch Amerika. Ihre Blindheit stellt dabei für sie und ihre Umgebung dabei fast keine Beeinträchtigung mehr dar. Ähnlich ergeht es Philip Carey in Somerset Maughams Roman "Der Menschen Hörigkeit“ (1915). Obwohl er mit einem Klumpfuß geboren wurde, erfüllt er sich seinen Lebenstraum: Er verliebt sich in die Tochter seines Freundes und lässt sich am Ende als Arzt nieder. Die Behinderung wird im Verlauf des Romans eine Randerscheinung, das eigentliche Thema ist die geistige und moralische Entwicklung Philips.

Im 20. Jahrhundert spielen Romanfiguren mit Behinderungen eine immer stärkere Rolle, besonders ihr Erleben der Umwelt ist ein gern benutztes Thema. In "Die Blechtrommel“ wird Oskar Matzerath freiwillig zum Kleinwüchsigen, in "Mein Name sei Gantenbein“ (1964) lässt Max Frisch seine sehende Hauptfigur einen Blinden spielen. Werke wie William Faulkners "Schall und Wahn“ (1929) oder Mark Haddons "Supergute Tage“ (2003) haben auch geistig behinderte Protagonisten zu Erzählern werden zu lassen – und damit zu integrierten Mitgliedern der Gesellschaft: "Mit der Zeit hörte seine Behinderung auf, besonders zu sein. Sie wurde genau so akzeptiert wie die roten Haare oder das Übergewicht anderer Mitschüler“ ("Der Menschen Hörigkeit")